Das Stundengebet bei den Trappisten (6/14) – Die Vigilien, das Nachtoffizium (b)

(Ausschnitte aus: Bernardin Schellenberger „Gott suchen-sich selbst finden. Erfahrungen mit der Regel Benedikts“. Kapitel: Das Stundengebet)

Hierauf begann die erste Nokturn, „die erste Nachtwache“. An gewöhnlichen Wochentagen bestand das Nachtoffizium aus zwei Nokturnen mit je sechs ziemlich langen Psalmen. In der ersten Nokturn folgten auf die sechs Psalmen drei Lesungen mit je einem Antwortgesang: die erste aus der Bibel, die beiden anderen aus den Kirchenvätern. In der zweiten Nokturn folgte auf die sechs Psalmen nur noch eine kurze Lesung aus dem Neuen Testament. An Sonn- und Feiertagen gab es drei Nokturnen mit jeweils vier Lesungen und Antwortgesängen, also insgesamt zwölf. In der dritten Nokturn wurden nicht sechs Psalmen, sondern drei Cantica, „Gesänge“ aus dem Alten Testament, verwendet. Die erste Lesung danach (also die neunte) war immer das Evangelium des Tages, und in den Lesungen zehn bis zwölf wurde in drei Teilen die Auslegung eines Kirchenvaters dazu vorgetragen. Dann folgte noch der lange Gesang des Te Deum.

Ein solches Festtags-Nachtoffizium konnte gut zweieinhalb Stunden dauern; werktags im Sommer dauerte das Nachtoffizium dagegen nur ungefähr eine Stunde lang. Zeitweise wurde man da natürlich ganz schön müde, vor allem im Sommer, wenn man wegen der Helligkeit und Wärme vielleicht erst gegen zehn Uhr hatte einschlafen können oder noch bis neun Uhr beim Späteinsatz in der Heu- oder Getreideernte gewesen war. Aber weil man nach jedem Psalm zum „Ehre sei dem Vater“ aufstehen und sich tief verbeugen musste, konnte man nie lange eindösen. In der Frühzeit scheinen die Zisterzienser das ganze Nachtoffizium stehend gefeiert zu haben – und manche schliefen im Stehen ein.

Das erzählt zum Beispiel Caesarius von Heisterbach vom Mönch Friedrich in Himmerod, der „berüchtigt wegen des Lasters der Schlafsucht“ gewesen sei: „Als er eines Nachts beim Psalmengesang in der Frühmette in Himmerod stand und schlief, sah er vor sich, jedoch im Traum, einen langen, hässlichen Mann stehen, der in der Hand einen schmutzigen Strohwisch hielt, wie man ihn zum Abwischen der Pferde nimmt. Der blickte den Mönch grimmig an und sagte: ‚Was stehst du hier die ganze Nacht und schläfst?‘ Und dabei warf er ihm das schmutzige Stroh ins Gesicht. Jener wachte sogleich voll Schrecken auf, und um dem Wurf auszuweichen, zog er den Kopf zurück und stieß sich recht derb an der Wand.“

Die Fülle an Melodien, Bildern, Inhalten und Gefühlen konnten wir natürlich nur zum Teil aufnehmen. Aber es war auch gar nicht der Sinn, alles bewusst mitzudenken. Entscheidender waren der Fluss von biblischen Inhalten und Bildern sowie die Atmosphäre, die uns umgab. Das durchwirkte nach und nach die Seele bis in ihre Tiefenschichten.

Auch wenn in der Kirche nur über den Chorbüchern Licht brannte, zogen die hohen Fenster Nachtvögel an. Im Sommer riefen öfter Käuzchen. Oder der Sturm brauste in den Kastanienbäumen. Oder der Regen klatschte gegen die Scheiben.

1969 formulierte ich meine Erfahrung einmal so: „Im weiten, dunklen, schweigenden Land eine winzige Insel des Lichts. Hohe erleuchtete Fenster stemmen sich gegen die Fluten der Nacht. Wir eilen der Natur voraus und tun Dinge, die unsere natürlichen Kräfte übersteigen und die wir nie ganz einzuholen vermögen. Nur selten schwingt beim Beten all der Psalmen unser Herz im Gleichklang mit den Worten unserer Lippen. Wir singen Lob- und Danklieder, Gebete der Sehnsucht und des Schmerzes, aber unser Mund sagt sie, und das Herz ist oft öde und stumpf. Wir wachen, aber wir sind müde dabei. Und doch: Alles, was wir zu Gott hin stammeln mit unseren Lippen und mit trockenem Herzen, meinen wir so, wie wir es sagen. Unser Herz ist selten wachsam dabei, aber unser tiefstes Wesen betet zu Gott und ruft ihn an – aus all unserer Zerstreutheit und Dürre heraus.“

Wenn die Nachtwachen zu Ende waren, blieben wir eine Viertelstunde still in der Kirche. Es war Pause, „Betrachtung“, bis wir die Laudes sangen. In dem Augenblick, in dem wir alle Lichter löschten, wurden die Flächen der hohen Fenster transparent. Es war wie ein Gleichnis für unser Suchen nach Gott: Erst wenn die letzte Lampe der eigenen Klugheit und Vorstellung erlischt, verwandelt sich die schwarze Wand zum durchsichtigen Fenster. Wir saßen oder knieten mit dem Blick auf die Fenster und sahen mit an, wie die Morgendämmerung an Helligkeit zunahm.

(B. Schellenberger. Das Stundengebet)

Siehe: Buchvorstellung

Beachte:
– Das Stundengebet bei den Trappisten (1/14) – Siebenmal und in der Nacht.
– Das Stundengebet bei den Trappisten (2/14) – Nacht+Aufstehen+Auferstehen.
– Das Stundengebet bei den Trappisten (3/14) – Ein Tagesplan.
– Das Stundengebet bei den Trappisten (4/14) – Mitten in der Nacht ist der Anfang des Tages
– Das Stundengebet bei den Trappisten (5/14) – Die Vigilien, das Nachtoffizium (a)