In ihrem Hauptwerk, dem „Dialog von der göttlichen Vorsehung“, begonnen zwei Jahre vor ihrem Tod, inmitten größter Sorge und Kummer über die Lage der Kirche, stellt Caterina [von Siena] an Gott-Vater die Frage, was er denn mit der Kirche vorhabe – der Kirche, die in den Augen vieler „an Auszehrung leidet“. Und Gott erklärt Caterina, wozu Er die Kirche braucht: Sie sei untrennbar vom Heilsplan der Erlösung.
Die Unterredung zwischen dem fragenden Menschen und Gott, der Antwort gibt, setzt am Fundament an: Der Mensch ist „aus Liebe und für die Liebe erschaffen“ (D. 51). Diese Berufung zu verwirklichen, Gott zu lieben und all das, was Gott liebt, wäre höchste Seligkeit für den Menschen. Doch trat in diesem Bereich eine tiefe Verkehrung ein: Statt Gott zu lieben, wandte sich das Geschöpf sich selbst zu; der Mensch verfiel der „verkehrten Eigenliebe“. Hier wurzeln in der Sicht Caterinas alle Sünden und Fehlhaltungen schlechthin, von der groben Gier nach irdischen Gütern bis zum gekränkten Stolz oder der subtilen Rebellion gegen Gott. „Eigenliebe“ macht das Herz unfrei, aggressiv oder auch feige und überempfindlich – wie es nach Caterinas Beobachtung etwa bei Seelsorgern vorkommt, die wegen „eines einzigen bösen Wortes oder Blickes“ gleich die Flinte ins Korn werfen (D. 129). Nur wer frei ist von dieser „Eigenliebe“, hat den klaren Blick der Unterscheidung und ist stark in der Nächstenliebe.
Sich aus dieser Verfallenheit zu befreien, war dem Menschen aus eigenen Kräften unmöglich. Der Weg der Liebe musste ihm neu erschlossen werden; und dafür reichten weder Gebot noch Belehrung, vielmehr musste dem Menschen eine solche Liebe erwiesen werden, dass er die Kraft zur antwortenden Liebe finden könnte. Eben dieser Erweis von Liebe wurde im Leben und Sterben des menschgewordenen Gottessohnes erbracht. Caterina verdeutlicht das Erlösungsgeschehen mit einem anrührenden Gleichnis: Der Arzt Jesus Christus verhielt sich wie eine Amme, welche selbst das Medikament nimmt, das der allzu geschwächte Säugling nicht vertragen kann, um ihm mit der Muttermilch die zuträgliche Dosis einzuflößen. Die bittere Medizin war Christi vollkommener Gehorsam bis zum Tod, der keinem Menschen möglich gewesen war. Durch die Taufe erhält der Gläubige daran Anteil (D. 14): „Heilung und das Leben der Gnade“.
Man kommt in Kontakt mit dem Erlöser durch die Verkündigung und die Sakramente der Kirche. Sie sind sozusagen ihr glühender Kern, „sie alle haben ihre Kraft aus dem Blut des Lammes“. Das „Blut“, das heißt die Erlösungsgnade, zu hüten und auszuteilen, ist die Kirche da – was Caterina in zahlreichen Bildern, etwa dem des „Weinkellers“, zum Ausdruck bringt. In der Dimension, in der die Kirche die Sakramente spendet – von Caterina „corpo mistico“ genannt, im Unterschied zur Gesamtheit der Glieder der Kirche, dem „corpo universale“ –, „ist sie nichts anderes als Christus selbst“, die Ausdehnung seiner erlösenden Liebe auf alle Zeiten, aus seinem Herzen geboren.
(aus: Marianne Schlosser. „Medizin gegen die Eigenliebe“, in „Die Tagespost“)