Betroffenheit, wie es so weit kommen konnte

Unter diesem Punkt fasse ich alles zusammen, was im Moment aus unserer Kirche an die Öffentlichkeit kommt: Uneinigkeit, Streit, Missbrauch. Ich spüre, wie sich meine Mitschwestern fragen, ob sie wirklich in der Kirche Jesu Christi sind oder nicht eher in einem Verbrechersyndikat.

Als Äbtissin fühle ich mich einerseits verpflichtet, die Kirche zu verteidigen, andererseits deprimiert mich das alles ungemein, weil ich sehe, dass es nichts zu verteidigen und zu beschönigen gibt. Wogegen ich mich allerdings wehre, ist die in meinen Augen oft künstliche, aufgesetzt wirkende Betroffenheit, die mir mit Tränen in den Augen sagen will, hier geschehe etwas völlig Unerhörtes, nie Dagewesenes.

Wenn ich die Heilige Schrift lese finde ich in ihr im Grunde alles wieder. Gerade die Texte, die oft Anstoß erregen – ich denke vor allem an die Psalmen -, höre ich 2019 ganz neu und frage mich, ob wir nicht in den letzten Jahrzehnten eine reichlich naive Anthropologie vertraten, die nicht ernsthaft mit der Realität des Bösen rechnete. Dass die Stärkeren die Schwächeren unterdrücken, dass die Reichen den Armen nichts abgeben wollen, dass Männer Frauen vergewaltigen, ist das Normale, erst Christus hat uns die Augen dafür geöffnet, dass das Sünde ist und nicht sein darf.

Es gilt, was Hans Urs von Balthasar schreibt: „Die Kirche ist eine Gemeinschaft von durch die Taufe geheiligten Sündern, deren verbleibende oder wieder erwachende Sündigkeit mit innerer Konsequenz zur Zwietracht [und ich ergänze: zu Gier, Machtgier und Narzismus] führt“.

Nicht dass die Kirche bis in den Klerus hinein aus Sündern besteht, ist das Neue, sondern dass es sich nicht mehr verheimlichen lässt, dass endlich geschieht, was Jesus vorausgesagt hat: „Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar wird, und nichts Geheimes, das nicht bekannt wird und an den Tag kommt“ (Lk 8,17), denn „nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt wird, und nichts ist verborgen, was nicht bekannt wird“ (Lk 12,2).

Es gibt ein ernstes Wort von Martin Buber, das bei ihm auf den Chassidismus bezogen ist, mir aber auch auf unsere Kirche zu passen scheint. Buber sagt: „Der Niedergang einer großen Bewegung, zumal einer großen religiösen Bewegung, scheint mir die härteste Probe zu sein, auf die der Glaube eines wahrhaft religiösen Menschen … gestellt werden kann, eine viel härtere Probe als alles persönliche Schicksal; es scheint mir die größte aller Hiobsfragen zu sein, wie es geschehen kann, dass aus solcher Gottesnähe solche Gottesferne wird“.

Aus: „… vielleicht ist noch Hoffnung“ (Klgl 3,29) – Vortrag von Äbtissin Christiana Reemts, Abtei Mariendonk, am „Tag der Priester und Diakone“ des Bistums Aachen, 14. 5.2019.

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