Die Schauungen der seligen Anna Katharina Emmerick, nach Clemens Brentano.
(…) – Erdbeben, Erscheinung der Toten in Jerusalem
Als Jesus mit lautem Ruf seinen Geist in die Hände seines himmlischen Vaters aufgab, sah ich seine Seele, eine Lichtgestalt, bei dem Kreuz zur Erde niederfahren, und mit ihr eine leuchtende Schar von Engeln, darunter auch Gabriel; ich sah durch diese Engel eine große Menge von bösen Geistern von der Erde in den Abgrund niedertreiben. Jesus aber sendete viele Seelen aus der Vorhölle hinauf in ihre Leiber, die Unbußfertigen zu schrecken und zu mahnen und ein Zeugnis von ihm zu geben.
Mit dem Erdstoß bei Jesu Tod, da der Kaivariafels zersprang, stürzte und sank vieles in der Welt, besonders in Palästina und Jerusalem. Sie hatten sich in der Stadt und dem Tempel kaum etwas bei der weichenden Finsternis beruhigt, als das Beben des Grundes, das Getöse des Einstürzens an vielen Orten einen noch allgemeineren Schrecken verbreitete. Den fliehenden und wehklagend durcheinander eilenden Menschen aber traten zum äußersten Entsetzen hie und da die erstandenen, wandelnden, mit hohler Stimme mahnenden Leichen entgegen.
Im Tempel hatten die Hohenpriester das Schlachten, welches durch den Schrecken der Finsternis etwas gestört worden, eben wieder in Gang gebracht und triumphierten über das rückkehrende Licht, als plötzlich der Grund bebte, ein dumpfes Getöse gehört wurde und das Krachen einstürzender Mauern, von dem zischenden Reißen des Vorhangs begleitet, einen Augenblick der stummen Angst in der ungeheuren Menge erweckte, der bald hie und da von Wehgeschrei unterbrochen ward. Aber die Menge war so geordnet, das ungeheure Gebäude des Tempels so erfüllt und das Heran- und Zurückschreiten der großen Scharen der schlachtenden Menschen so regelmäßig bestimmt, und die Handlung des Schlachtens, Blutauslassens und Sprengens des Blutes am Altar durch die langen Reihen unzähliger Priester, von lautem Gesang und Posaunenschall umtönt, war so zusammenhängend und verkettet, daß der Schrecken nicht gleich in allgemeine Verwirrung und Auflösung überging.
So setzte sich denn in dem ungeheuren Gebäude, den vielen Räumen und Gängen die Opfertätigkeit in einzelnen Gegenden noch ruhig fort, während Schrecken und Entsetzen an andern Orten ausbrach und am dritten durch die Priester wieder gestillt wurde, bis endlich durch die Erscheinung der Toten hie und da im Tempel sich alles auflöste und das Opfer, als sei der Tempel verunreinigt, unterbrochen wurde. Doch auch dieses Ereignis kam nicht so plötzlich über die Menge, daß sie sich erdrückend, fliehend die vielen Tempelstufen herabgestürzt hätte, sondern sie löste sich nach und nach, in Massen niedereilend, auf, während andere Teile hie und da wieder durch die Priester und durch die Absonderungen zusammengehalten wurden. Doch war die Angst, der Schrecken in verschiedenen Graden im ganzen unbeschreiblich.
Man kann sich ein Bild der Ordnung und Störung, die hier herrschte, machen, wenn man sich einen großen Ameisenhaufen in voller geordneter Tätigkeit vorstellt, in welchen Steine geworfen oder der hie und da mit einem Stab zerwühlt wird; während hier sich alles verwirrt, geht dort die Tätigkeit noch den ungestörten Gang und wird an erwählten Orten auch gleich wieder gedeckt und hergestellt.
Der Hohepriester Kaiphas und sein Anhang aber verlor mit verzweifelter Frechheit den Kopf nicht, und gleich der klugen Obrigkeit einer aufrührerischen Stadt brach er durch Drohung, Trennung der Parteien, Zureden und allerlei Vorspiegelungen die Gefahr und erreichte besonders durch seine teuflische Hartnäckigkeit und scheinbare Ruhe so viel, daß nicht eine allgemeine verderbliche Verwirrung ausbrach und daß die Meinung des ganzen Volkes diese schrecklichen Mahnungen nicht als ein Zeugnis für den unschuldigen Tod Jesu auslegte.
Auch die römische Besatzung der Burg Antonia tat alles, die Ordnung zu erhalten, und so waren zwar der Schrecken und die Verwirrung groß und erfolgte die Auflösung des Festes, aber ohne Aufstand, und die Flamme ward zu einer glimmenden Angst, welche das Volk, nach und nach zerstreut, mit nach Hause nahm und die dort bei den meisten durch die Tätigkeit der Pharisäer wieder unterdrückt wurde.
So war es im allgemeinen. Die einzelnen Ereignisse, deren ich mich entsinne, waren folgende: Die beiden großen Säulen des Einganges in das Sanktum des Tempels, zwischen welchen ein prächtiger Vorhang niederhing, wichen oben auseinander, die linke nach Süden, die rechte nach Norden; die Schwelle, die sie trugen, sank, und der große Vorhang zerriß zischend von oben nach unten der Länge nach, so daß er, sich öffnend, nach beiden Seiten niederfiel. Dieser Vorhang war rot, blau, weiß und gelb. Es waren viele Himmelskreise darauf abgebildet, auch Figuren, wie die eherne Schlange. Man konnte nun in das Sanktum hineinsehen. An Simeons Betzelle neben dem Sanktum in den nördlichen Mauern stürzte ein großer Stein heraus, und das Gewölbe der Zelle stürzte ein. In einigen Hallen sank hie und da der Boden, Schwellen verrückten sich und Säulen wichen.
Im Sanktum erschien der zwischen Tempel und Altar erschlagene Hohepriester Zacharias und sprach drohende Worte aus. Auch sprach er von dem Tod des andern Zacharias und des Johannes, wie überhaupt vom Morde der Propheten. Er kam von der Öffnung her, welche der bei Simeons Betzelle
ausgefallene Stein gebildet hatte, und redete die Priester im Sanktum an.
Zwei früh verstorbene Söhne des frommen Hohenpriesters Simon Justus, der ein Ältervater des alten, bei Jesu Opferung im Tempel weissagenden Priesters Simeon gewesen ist, erschienen wie Geister in größerer Gestalt auf dem Lehrstuhl und sprachen drohende Worte vom Mord der Propheten und dem Opfer, das nun zu Ende gehe, und ermahnten alle, sich zu der Lehre des Gekreuzigten zu wenden.
Am Altar erschien Jeremias und sprach drohende Worte, das Opfer sei zu Ende und es beginne ein neues Opfer. Diese Reden und Erscheinungen an Orten, wo Kaiphas oder die Priester sie allein vernommen hatten, wurden verleugnet und verheimlicht und unter schwerem Bann verboten, davon zu sprechen.
Aber es entstand noch ein großes Geräusch, die Türen des Heiligtumes sprangen auf, und es ertönte eine Stimme:
«Laßt uns von dannen ziehen!»
Ich sah Engel aus dem Tempel weichen. Der Altar des Rauchopfers bebte, und ein Rauchgefäß stürzte um, der Behälter der Schriftrollen fiel ein, und alle Rollen stürzten durcheinander, die Verwirrung wuchs, man wußte die Zeit nicht mehr.
Nikodemus, Joseph von Arimathäa und viele andere trennten sich vom Tempel und gingen hinweg. Es lagen hie und da tote Leiber, andere wandelten durch das Volk in einzelne Hallen und sprachen drohende Worte; mit der Stimme der vom Tempel scheidenden Engel kehrten sie zu den Gräbern zurück.
(…)
+