IMITATIO CHRISTI

NACHFOLGE CHRISTI  –  Thomas von Kempen

Vorwort

Das Buch von der Nachfolge Christi hat bei den Gläubigen so allgemeinen Beifall erhalten, dass außer der Heiligen Schrift vielleicht kein anderes zu finden ist, welches sich so weit verbreitet hätte und in der katholischen Kirche so allgemein bekannt geworden wäre. Die gelehrtesten und heiligsten Männer haben sie allzeit hochgeschätzt, und Leute aus allen Ständen mit Nutzen und Vergnügen gelesen.

Der hl. Carolus Borromäus und der hl. Papst Pius V. ließen dasselbe nie von sich; sie nahmen es mit auf ihre Reisen und sahen es als einen Gefährten ihres Lebens an. Aus diesem Buche schöpfte der hl. Phillippus Nerius jene Heiligkeit, zu welcher er gelangt ist. Der hl. Ignatius von Loyola las, nach dem Zeugnisse des Gonzalez, täglich zwei Kapitel, eines nach der Ordnung, in welcher sie aufeinanderfolgen; das andere, wie es ihm bei der Öffnung des Buches ungefähr auffiel. Er tat dies nicht ohne besonderen Nutzen; und damit auch andere einen gleichen daraus ziehen möchten, unterließ er nicht, dasselbe nachdrücklich zu empfehlen.

Die Hochschätzung ist ohne Zweifel auf den inneren Wert des Werkes selbst gegründet; denn die Lehre, welche darin vorgetragen wird, ist die reine Lehre Jesu Christi, welche Er uns in Seinem heiligen Evangelium hinterlassen hat. Nichts wird darin öfter und nachdrücklicher empfohlen, als die bösen Neigungen zu bezähmen, sich selbst zu verleugnen, das Zeitliche zu verachten, das Kreuz zu lieben, andere geduldig zu ertragen, die Unbilden gern zu verzeihen, nach dem inneren Frieden und nach der Reinheit des Herzens zu trachten; mit einem Worte, Christus nachzufolgen und sich eifrigst zu bestreben, jene Glückseligkeit zu erreichen, welche für uns bestimmt ist. Obwohl nun diese Lehren der verderbten Natur nicht angenehm sein können, so sind sie doch auf eine solche Art vorgetragen, dass man sie nicht ungern anhören wird.

Dieses Buch ist für jedermann; für Junge und Alte; für Gelehrte und Ungelehrte; für Sünder und Gerechte; für jene, welche den Tugendweg erst angetreten haben, und auch für jene, welche schon zur christlichen Vollkommenheit gelangt sind. Alle werden daraus einen desto größeren Nutzen schöpfen, je weiter sie auf dem Wege der Tugend und Vollkommenheit fortschreiten. Sie werden hier eine unversiegliche Quelle antreffen; nachdem sie lange geschöpft haben, wird ihnen stets noch genug zu schöpfen übrig sein. Der eben so gottselige als gelehrte Kardinal Bellarmin sagte von sich selbst: „Ich habe diese Büchlein von Jugend auf bis in mein hohes Alter sehr oft gelesen und wieder gelesen, und es ist mir doch allzeit neu vorgekommen; auch jetzt find ich mein größtes Vergnügen daran.“

Der hl. Ignatius von Loyola, welchen wir schon oben angeführt haben, fand allzeit das darin, was gerade für den Zustand seiner Seele passend war; und eben dieses wird jeder andächtige Leser immer erfahren; besonders werden bedrängte Seelen vorzüglich darin Hilfe finden. Es braucht oft nicht mehr, als dieses Büchlein zu öffnen, um in der Traurigkeit Trost, in Zweifeln Rat, in der Anfechtung Stärke zu finden.

Wenn aber schon das nämliche Kapitel nach den Bedürfnissen des Lesers bald unterrichtet, bald tröstet, bald vom Bösen abschreckt, bald zum Guten antreibt, so wird es doch keineswegs unnütz sein, wenn man sich mit diesem Büchlein wohl bekannt macht und vorzüglich jene Kapitel merkt, welche für diese oder jene Umstände besonders tauglich sein möchten.

Das dritte Buch ist größtenteils gesprächsweise verfasst. Gott redet da mit dem Menschen und unterweist ihn, muntert ihn auf, tröstet ihn liebreich und stärkt ihn mit der Hoffnung der künftigen Glückseligkeit; und der Mensch redet wieder mit Gott; er trät Ihm seine Armseligkeiten vor, bittet Ihn um Licht und Stärke, überlässt sich Seinen heiligsten Anordnungen und wirft sich Ihm mit völligem Vertrauen in die Arme. Es ist notwendig, dass der Leser dieses bemerke und auf den Unterschied der Redenden acht gebe, weil ihm sonst die Sache oft unverständlich sein würde.

Das ganze vierte Buch handelt von dem heiligsten Altarsakrament, um uns diese hohe Geheimnis besser vor Augen zu stellen, unsern Glauben zu beleben, uns zum Vertrauen zu ermuntern, die Liebe in uns zu entzünden, und uns zum würdigen Empfang desselben vorzubereiten. Zu diesem Ende wird in mehreren Kapiteln die Vortrefflichkeit dieses heiligsten Sakramentes erwogen, und die Liebe des göttlichen Erlösers, welcher in demselben verborgen ist, zu Gemüte geführt.

Der gütige Gott wolle Sich würdigen, dieses Werk zu segnen, damit es zum Heil der Seelen und zu Seiner Ehre etwas beitrage.

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Erstes Buch
Nützliche Ermahnungen zum geistlichen Leben

Erstes Kapitel
Von der Nachfolge Christi und von der Verachtung aller Eitelkeiten der Welt.

1. Wer Mir nachfolgt, wandelt nicht in Finsternis, sagt der Herr. Dies sind Worte Christi, durch welche wir erinnert werden, Ihm in Seinem Leben und in Seinem Wandel nachzufolgen, wenn wir verlangen, wahrhaft erleuchtet und von aller Blindheit des Herzens befreit zu werden. Wir müssen also allen Fleiß anwenden, das Leben Jesu Christi zu betrachten.

2. Die Lehre Jesu Christi übertrifft alle Lehren der Heiligen; und wer den wahren Geist hätte, der würde da ein verborgenes Himmelsbrot finden. Es geschieht aber, dass viele auch aus der öfteren Anhörung des Evangeliums eine geringe Begierde nach demselben in sich empfinden, weil sie den Geist Christi nicht haben. Wer aber die Worte Christi vollkommen verstehen und einen Geschmack darin finden will muss sich befleißen, sein ganzes Leben nach dem Leben Jesu Christi einzurichten.

3. Was nützt es dir, dass du von der Dreieinigkeit Gottes hohe Dinge vorzubringen weißt, wenn es dir dabei an Demut mangelt und du deswegen dem lieben Gott missfällst? In der Tat, die hohen Worte machen weder heilig, noch gerecht; nur durch ein tugendhaftes Leben wird man Gott angenehm. Lieber ist mir, Zerknirschung des Herzens empfinden, als ihre Beschreibung wissen. Wenn du die ganze Heilige Schrift auswendig wüsstest, und wenn dir die Sprüche aller Weltweisen bekannt wären, was würde dir dieses alles ohne die Liebe Gottes und ohne die Gnade nützen? Eitelkeit über Eitelkeit, und alles ist Eitelkeit, außer Gott lieben und Ihm allein dienen. Die höchste Weisheit besteht darin, dass man die Welt verachtet und nach dem Himmel strebt.

4. Es ist also Eitelkeit, wenn man vergängliche Reichtümer sucht und auf diese seine Hoffnung setzt. Es ist Eitelkeit, wenn man nach Ehren strebt und sich zu einem hohen Stande zu erschwingen trachtet. Es ist Eitelkeit, wenn man den Begierden des Fleisches folgt und ein Verlangen nach jenen Dingen trägt, welche schwere Strafen nach sich ziehen. Es ist Eitelkeit, wenn man ein langes Leben wünscht, aber nicht daran denkt, gut zu leben. Es ist Eitelkeit, wenn man nur auf das gegenwärtige Leben acht gibt und nicht für das zukünftige sorgt. Es ist Eitelkeit, wenn man Dinge liebt, welche schnell vorübergehen, und nicht dahin eilt, wo die Freude ewig dauert.

5. Denke oft an jenen Ausspruch: „Das Auge wird nicht satt vom Sehen und das Ohr nicht satt vom Hören.“ Befleiße dich also, dein Herz von der Liebe sichtbarer Dinge abzuziehen und dich an das Unsichtbare zu gewöhnen; denn jene, welche ihrer Sinnlichkeit folgen, verunreinigen ihr Gewissen und verlieren die Gnade Gottes.

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Zweites Kapitel
Von der Geringschätzung seiner selbst.

1. Alle Menschen haben von Natur aus Wissbegierde; aber was nützt Wissenschaft ohne Furcht Gottes? Ein demütiger Bauer, welcher Gott dient, ist in der Tat viel besser als ein hoffärtiger Weltweise, welcher sich selbst vernachlässigt und auf den Lauf des Himmels Achtung gibt. Wer sich selbst wohl erkennt, dünkt sich in seinen eigenen Augen gering und hat keine Freude an dem Lobe der Menschen. Wenn ich alles wüsste, was in der Welt ist, wenn ich aber die Liebe nicht hätte, was würde es mir vor Gott helfen, welcher mich einst nach meinen Werken richten wird?

2. Unterdrücke die allzu große Wissbegierde, denn man verwickelt sich dadurch in viele Zerstreuungen und täuscht sich gar oft. Die Gelehrten verlangen gesehen und von anderen als Weise gepriesen zu werden. Es gibt viele Dinge, deren Kenntnis der Seele wenig oder gar keinen Nutzen bringt. Und jener ist gewiss sehr töricht, welcher auf etwas anderes bedacht ist, als was ihm zu seinem Heile dient. Viele Worte sättigen die Seele nicht, aber ein frommes Leben erquickt das Gemüt, und ein reines Gewissen flößt großes Vertrauen auf Gott ein.

3. Je mehr du weißt, und je besser du erfahren bist, desto strenger wirst du eins gerichtet werden, wenn du nicht auch zugleich heiliger lebst. Erhebe dich also nicht wegen einer Kunst oder wegen was immer für einer Wissenschaft, sondern fürchte dich vielmehr wegen eben dieser Kenntnis, welche dir gegeben worden ist. Wenn es dir scheint, du wissest vieles, und du verstehest es wohl, so musst du doch dafür halten, es sei noch viel mehr übrig was dir unbekannt ist. Bilde dir auf deine Wissenschaft nicht zu viel ein, sondern bekenne vielmehr deine Unwissenheit. Warum willst du dich einem anderen vorziehen, da es doch viele gibt, welche dich an Gelehrsamkeit übertreffen und in dem Gesetze größere Erfahrung haben als du? Wenn du etwas mit Nutzen zu wissen und zu lernen verlangst, so trachte, dass du verborgen bleibest und nimm es gerne an, wenn du für nichts geachtet wirst.

4. Die wahre Kenntnis und Verachtung seiner selbst ist die höchste und nützlichste Wissenschaft. Von sich selbst nichts halten, dagegen von anderen allzeit gute und rühmliche Gesinnungen haben, das ist große Weisheit und Vollkommenheit. Wenn du einen anderen offenbar sündigen oder schwere Verbrechen begehen siehst, so darfst du dich deswegen doch nicht für besser halten, weil du nicht weißt, wie lange du im Guten verharren wirst. Wir alle sind gebrechliche Menschen; aber niemand musst du für gebrechlicher halten als dich selbst.

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Drittes Kapitel
Von der Lehre der Wahrheit.

1. Glückselig ist jener Mensch, welchen die Wahrheit selbst lehrt und zwar nicht durch bloße Vorstellungen und vorübergehende Worte, sondern wie sie in sich selbst ist. Unsere Meinung und unser Sinn betrügt uns oft und ist sehr kurzsichtig. Was für einen Nutzen bringen mühsame Untersuchungen über verborgene und dunkle Sachen, wegen welcher wir am Gerichtstage nicht werden zur Rede gestellt werden, wenn wir dieselben schon nicht gewusst haben? Es ist eine große Torheit, wenn wir das Nützliche und Notwendige vernachlässigen und freiwillig auf vorwitzige und schädliche Dinge aufmerken. Wir haben Augen, aber wir sehen nicht.

2. Und warum sollen wir uns lange über Streitigkeiten aufhalten, ob dieses oder jenes in dem allgemeinen Begriffe enthalten sei oder ob es zu einer besonderen Gattung gehöre? Jener, zu welchem das ewige Wort redet, wird von vielen zweifelhaften Meinungen befreit. Aus einem Worte ist alles, und alles gibt diesem Wort Zeugnis; und dieses Wort ist der Anfang und Ursprung, welcher zu uns redet. Ohne dieses Wort hat niemand einen Verstand, und es ist auch niemand fähig, ein vernünftiges Urteil zu fällen. Wer, statt auf andere Sachen zu sehen, sein einziges Augenmerk auf dieses richtet, wer alles auf dieses bezieht und alles in diesem betrachtet, der kann in seinem Herzen beständig sein und ruhig in Gott verharren. O Gott, Du ewige Wahrheit! Vereinige und mache mich eins mit Dir durch das Band der ewigen Liebe. Das viele Lesen und Hören macht mir oft einen Ekel; in Dir ist alles, was ich will und verlange. Alle Lehrer sollen schweigen und alle Geschöpfe vor Deinem Angesichte verstummen; rede Du allein zu mir!

3. Je mehr einer in sich selbst gesammelt ist und je mehr bei ihm innerlich alles nur auf einen Gegenstand abzielt, desto mehrere und höhere Dinge wird er ohne Mühe verstehen, weil er das Licht der Erkenntnis von oben herab empfängt. Eine reine, aufrichtige und beständige Seele wird auch bei vielen Geschäften nicht zerstreut, weil sie alles zur Ehre Gottes verrichtet und sich bestrebt, ihre Absichten von aller Eigenliebe rein zu erhalten. Wer hindert und beunruhigt dich mehr als die unabgetöteten Neigungen deines eigenen Herzens? Ein gottesfürchtiger und andächtiger Mensch bringt die äußerlichen Werke, welche er verrichten muss, zuerst in seinen Gedanken in Ordnung; er lässt sich von ihnen nicht zu Begierden einer sündhaften Neigung dahinreißen, sondern er weiß dieselbe nach dem Urteile der rechten Vernunft einzurichten. Wer muss einen härteren Kampf aushalten, als welcher sich bemüht, sich selbst zu überwinden? Und dieses sollte unser Geschäft sein, dass wir nämlich uns selbst überwinden, täglich mehr Herrschaft über uns selbst gewinnen und in der Tugend immer größere Fortschritte machen.

4. Auch die höchste Vollkommenheit, zu welcher man in diesem Leben gelangt, ist noch mit einiger Unvollkommenheit verbunden; denn alle unsere Einsichten und Kenntnisse sind nicht von aller Dunkelheit frei. Die demütige Erkenntnis seiner selbst führt viel sicherer zu Gott, als die tiefste Erforschung der Wissenschaft. Zwar darf man die Wissenschaft oder die Kenntnis irgendeiner Sache nicht tadeln; sie sind in sich selbst gut und von Gott angeordnet: doch ist ein gutes Gewissen und ein tugendhaftes Leben allzeit höher zu schätzen. Weil aber viele mehr bedacht sind, viel zu wissen, als gottselig zu leben: so geraten sie in viele Irrtümer und haben von ihren Bemühungen keinen oder doch nur wenig Nutzen.

5. O wenn doch diese Leute einen ebenso großen Fleiß anwenden würden, die Laster auszurotten und die die Tugenden einzupflanzen, als sie sich Mühe geben, spitzfindige Fragen aufzuwerfen, so würde nicht so viel Böses geschehen und kein so großes Ärgernis unter dem Volke herrschen, man würde auch in Klöstern keine so große Freiheit wahrnehmen. An dem letzten Gerichtstage wird man uns gewiss nicht fragen was wir gelesen, sondern was wir getan haben, nicht wie zierlich wir gesprochen, sondern wie gottesfürchtig wir gelebt haben. Sage mir, wo sind nun alle jene Herren und jene erleuchteten Lehrer, welche du wohl kanntest, da sie noch lebten, und welche wegen ihrer Wissenschaft so berühmt waren? Ihre Einkünfte besitzen nun andere; und vielleicht denken diese nicht einmal mehr an sie. In ihrem Leben schienen sie groß zu sein, und jetzt schweigt man von ihnen.

6. O wie geschwind vergeht die Herrlichkeit der Welt! Wollte Gott, sie hätten ihr Leben nach ihrer Wissenschaft eingerichtet, dann würden sie mit Nutzen studiert und gelesen haben. Wie viele gehen in der Welt wegen ihrer eitlen Wissenschaft zugrunde, weil sie sich um den Dienst Gottes wenig bekümmern und weil sie lieber groß als demütig sein wollen, so gehen sie mit lauter eitlen Gedanken um. Wahrhaft groß ist, wer eine große Liebe hat; wahrhaft groß , wer in seinen Augen klein ist und alle Ehrenstufen für nichts achtet; wahrhaft bescheiden ist, wer alles Irdische für nichts achtet, damit er Christus gewinne; und wahrhaft gelehrt ist, wer seinen eigenen Willen verlässt und den Willen Gottes tut.

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Viertes Kapitel
Von der Vorsicht bei seinen Geschäften und Unternehmungen.

1. Nicht jedem Worte und Einfalle muss man glauben, sondern die Sache sorgfältig und ohne Übereilung mit Gott beraten. Oft wird leider das Böse von anderen leichter geglaubt und nachgesprochen als das Gute; so schwach sind wir. Aber vollkommene Männer glauben nicht leicht einer jeden Erzählung, weil sie die menschliche Schwachheit kennen, welche zum Bösen so geneigt ist und sich in Worten gar oft verfehlt.

2. Es ist eine große Weisheit, wenn man sich in seinen Geschäften nicht übereilt und auf seinem eigenen Sinne nicht hartnäckig beharrt. Diese Weisheit lehrt uns auch, dass wir nicht allen Worten der Menschen glauben und dass wir dasjenige, was wir gehört oder geglaubt haben, nicht sogleich wieder anderen erzählen. Frage einen weisen und gewissenhaften Menschen um Rat und suche viel eher bei einem Verständigen Belehrung, als dass du deinen eigenen Einfällen folgest. Ein frommes Leben macht den Menschen weise in Gott und erfahren in vielen Dingen. Je demütiger einer in seinem Herzen ist und je vollkommener er sich Gott unterwirft, desto weiser und ruhiger wird er in allen Vorfällen sein.

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Fünftes Kapitel
Von der Lesung der Heiligen Schrift.

1. In der Heiligen Schrift muss man die Wahrheit, nicht die Beredsamkeit suchen. Die Heilige Schrift muss mit eben dem Geiste gelesen werden, mit welchem sie verfasst worden ist. Wir müssen in ihr vielmehr den Nutzen, als eine künstliche Beredsamkeit suchen. Wir müssen ebenso gerne jene Bücher lesen, welche einfach und andächtig verfasst sind, wie jene, welche erhaben und mit tiefer Gelehrsamkeit geschrieben sind. Das Ansehen des Verfassers muss dich nicht irre machen, er mag nun gelehrt oder nicht gelehrt gewesen sein; nur die Liebe zur reinen Wahrheit muss dich zum Lesen antreiben. Frage nicht lange, WER dies gesagt habe, sondern merke, WAS gesagt wird.

2. Die Menschen vergehen, aber die Wahrheit des Herrn bleibt ewig. Ohne einen Unterschied zwischen den Menschen zu machen, redet Gott auf verschiedene Arten mit uns. Oft hält uns unser Vorwitz im Lesen gottseliger Schriften auf, indem wir verstehen und untersuchen wollen, wo wir ohne weiteres Nachforschen vorübergehen sollten. Wenn du mit Nutzen zu lesen verlangst: so lies mit Demut, mit Einfalt und Treue. Du musst auch niemals trachten, dir unter den Gelehrten einen Ruhm zu erwerben. Frage gern und höre die Worte der Heiligen mit Stillschweigen; lass dir die Sprüche der Alten nicht missfallen; ohne Ursache führt man sie nicht an.

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Sechstes Kapitel
Von den Leidenschaften.

1. Sobald der Mensch auf eine unordentliche Weise nach einer Sache trachtet, wird er sogleich in seinem Herzen unruhig werden. Der Hoffärtige und Geizige hat niemals Ruhe; der Arme im Geiste und der Demütige aber wandelt in einem vollkommenen Frieden. Ein Mensch, welcher sich selbst noch nicht ganz abgestorben ist, wird gar leicht versucht und in geringfügigen und unbedeutenden Dingen überwunden. Ein im Geiste schwacher und einigermaßen noch fleischlicher und zur Sinnlichkeit geneigter Mensch kann sich hart von allen irdischen Begierden gänzlich losmachen. Deswegen verfällt er oft in Traurigkeit, wenn er sich davon enthalten will; er wird auch leicht unwillig, wenn ihm jemand widerspricht.

2. Wenn er aber erlangt hat, was er begehrte, so wird ihn auch sogleich sein schuldiges Gewissen ängstigen, weil er seiner bösen Neigung folgte. Den wahren Frieden des Herzens also findet man, wenn man den bösen Neigungen widersteht, nicht aber, wenn man ihnen nachgibt. Der Friede ist also nicht in dem Herzen eines fleischlichen Menschen, nicht im Gemüte dessen, der am Äußern hängt, sondern nur bei eifrigen und geistreichen Seelen.

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Siebtes Kapitel
Die eitle Hoffnung und den Hochmut soll man fliehen.

1. Jener ist eitel, welcher seine Hoffnung auf die Menschen oder auf andere Geschöpfe setzt. Du musst dich nicht schämen, aus Liebe zu Jesus Christus anderen zu dienen und in dieser Welt für arm gehalten zu werden. Verlass dich nicht auf dich selbst, sondern baue deine Hoffnung auf Gott. Tue so viel in deinen Kräften ist, und Gott wird deinen guten Willen ansehen und dir helfen. Verlass dich nicht auf deine Wissenschaft oder auf die Klugheit eines anderen, sondern vertraue vielmehr auf Gott, welcher den Demütigen zu Hilfe kommt und die Stolzen erniedrigt.

2. Rühme dich nicht wegen des Reichtums, den du besitzt, oder wegen deiner Freunde, weil sie mächtig sind, sondern rühme dich in Gott, welcher alles gibt und Sich Selbst vor allem zu geben verlangt. Sei nicht stolz auf die Größe oder Schönheit deines Leibes, welche eine kleine Krankheit vernichten oder entstellen kann. Habe auch kein Wohlgefallen an dir selbst wegen deiner Geschicklichkeit oder wegen deines Verstandes, damit du nicht Gott missfällst, welchem alles zugehört, was du immer Gutes von der Natur besitzt.

3. Halte dich nicht für besser als andere, damit du vor Gott, welchem die innere Beschaffenheit des Menschen bekannt ist, nicht für schlechter gehalten wirst. Sei nicht hoffärtig wegen deiner guten Werke, denn die Urteile Gottes sind anders, als die Urteile der Menschen. Gott missfällt gar oft dasjenige, was den Menschen gefällt. Wenn du etwas Gutes hast, so glaube, andere haben mehr Gutes als du, damit du dich in der Demut erhaltest. Es schadet dir nichts, wenn du dich allen nachsetzt; dagegen aber schadet es dir sehr viel, wenn du dich auch nur einem einzigen vorziehst. Die Demütigen genießen einen sanften Frieden; die Hoffärtigen aber werden in ihrem Herzen beständig von Zorn und Verdruss beunruhigt.

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Achtes Kapitel
Vor allzu großer Vertraulichkeit muss man sich hüten.

1. Offenbare nicht jedem die Geheimnisse deines Herzens, sondern beratschlage dich wegen deiner Geschäfte mit Weisen und Gottesfürchtigen. Mit jungen Leuten und mit Auswärtigen gehe selten um. Schmeichle nicht den Reichen und erscheine nicht gerne bei den Großen der Welt. Geselle dich zu den Demütigen und Einfältigen, zu den Andächtigen und Sittsamen, und unterhalte dich mit ihnen über erbauliche Sachen. Lass dich mit keinem Weibe in Vertraulichkeit ein, sondern befiehl alle frommen Frauen überhaupt Gott an. Wünsche allein mit Gott und mit Seinen Engeln vertraut zu sein, und hüte dich vor der allzu großen Bekanntschaft mit den Menschen.

2. Man muss alle lieben; es ist aber nicht nützlich, mit allen vertraulich umzugehen. Es geschieht bisweilen, dass ein unbekannter Mensch wegen seines guten Rufes bei anderen in Ansehen kommt; aber durch seine Gegenwart verdunkelt er selbst seinen Ruhm. Wir glauben bisweilen, anderen wegen unseres freundschaftlichen Betragens zu gefallen, welchen wir nachher, wenn sie unser ungesittetes Wesen an uns bemerken, umso mehr missfallen.

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Neuntes Kapitel
Vom Gehorsam und von der Unterwerfung.

1. Es ist etwas sehr Großes, unter dem Gehorsam zu stehen, unter einem Vorgesetzten zu leben und nicht sein eigener Herr zu sein. Es ist viel sicherer, untertänig zu sein, als anderen vorzustehen. Viele gehorchen mehr aus Zwang, als aus Liebe; sie tun es daher mit Widerwillen und murren leicht. Sie werden auch niemals zur Freiheit des Geistes gelangen, wenn sie sich nicht wegen Gott von ganzem Herzen unterwerfen. Du magst dich an diesen oder jenen Ort begeben; du wirst doch nirgends Ruhe finden, außer wenn du dich der Anleitung eines Vorgesetzten mit Demut unterwirfst. Die Vorstellung anderer Orte und die Veränderung des Aufenthaltes hat viele betrogen.

2. Es ist wahr, ein jeder handelt gerne nach seinem Sinne, und wir haben eine größere Neigung zu jenen, welche ebenso denken wie wir. Aber wenn Gott wahrhaft mit uns ist, so müssen wir aus Liebe zum Frieden unsere Meinung bisweilen fahren lassen. Wer ist so weise, dass er alles vollkommen einsehen kann? Vertraue also nicht zu viel auf deinen eigenen Sinn, sondern höre auch gerne die Meinung anderer. Wenn deine Meinung gut ist und wenn du dieselbe wegen Gott doch fahren lässt und einem anderen folgst, so wirst du einen größeren Nutzen daraus ziehen.

3. Denn ich habe oft gehört: es sei viel sicherer, eines anderen Meinung zu hören und guten Rat von ihm anzunehmen, als ihn zu geben. Es kann wohl auch geschehen, dass die Meinung eines jeden gut ist, aber wenn man anderen nicht nachgeben will, da es doch die Vernunft oder sonst eine Ursache erheischt, so ist es ein Zeichen der Hoffart und Hartnäckigkeit.

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Zehntes Kapitel
Vor überflüssigen Worten muss man sich hüten.

1. Fliehe das Getümmel der Menschen so gut du kannst, denn die Unterredungen über weltliche Angelegenheiten sind oft schädlich, wenn man auch eine aufrichtige Meinung dabei hat. Wir werden nur gar zu bald von der Eitelkeit befleckt, und unser Herz wird dadurch eingenommen. Ich wünschte, ich hätte öfter geschwiegen und wäre nicht unter den Leuten gewesen. Aber woher kommt es doch, dass wir so gerne reden und uns miteinander unterhalten, da wir doch selten ohne Verletzung des Gewissens zum Stillschweigen zurückkehren? Wir reden deswegen so gerne miteinander, weil wir durch unsere Unterredungen beieinander Trost suchen und unser Herz, welches durch verschiedene Beschäftigungen ermüdet ist, zu erleichtern wünschen. Auch von jenen Dingen, welche wir lieben, begehren oder verabscheuen, denken und reden wir mit Vergnügen.

2. Aber es geschieht leider oft vergebens und ohne Nutzen. Denn dieser äußerliche Trost schadet dem innerlichen und himmlischen nicht wenig. Deswegen muss man wachen und beten, damit die Zeit nicht müßig verstreiche. Wenn es erlaubt und schicklich ist zu reden, so rede, was zur Erbauung dient. Die böse Gewohnheit und die geringe Sorge, welche wir für unseren Fortgang haben, ist größtenteils schuld, dass wir unsere Zunge so schlecht bewahren. Andächtige Unterredungen von geistlichen Sachen tragen zum Fortgang im geistlichen Leben sehr vieles bei, besonders wenn Leute von gleichen Gesinnungen und von gleichem Geiste, aus so heiligen Absichten versammelt sind.

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Elftes Kapitel
Von dem Streben nach Frieden und Vollkommenheit.

1. Wir könnten süßen Frieden genießen, wenn wir uns nicht mit den Reden und Handlungen anderer, welche uns doch nichts angehen, beschäftigen wollten. Wie kann jener lange im Frieden leben, der sich in fremde Angelegenheiten mischt; der von außen Gelegenheiten zu Zerstreuungen sucht; der sein Gemüt nur wenig oder selten sammelt? Selig sind, die in Einfalt ihres Herzens leben, denn sie werden süßen Frieden genießen!

2. Warum sind wohl einige Heilige in der Vollkommenheit und in dem beschaulichen Leben so weit gekommen? Weil sie sich bestrebten, ihren Neigungen zu irdischen Dingen abzusterben; deswegen konnten sie Gott von ganzem Herzen anhängen und mit aller Freiheit für ihr eigenes Heil sorgen. Wir sind allzu sehr mit unseren bösen Neigungen beschäftigt und sorgen zu viel für das Vergängliche. Selten überwinden wir auch nur eine böse Neigung vollkommen und haben keinen ernstlichen Willen, täglich in der Tugend zuzunehmen; deswegen bleiben wir kalt und lau.

3. Wenn wir uns selbst vollkommen abgestorben und von allen innerlichen Banden frei wären, so könnten wir auch das Göttliche verkosten und etwas von der himmlischen Beschaulichkeit erfahren. Das ganze und größte Hindernis ist, dass wir von den bösen Neigungen und Begierlichkeiten nicht frei sind und uns nicht bemühen, den Heiligen auf dem Wege der Vollkommenheit nachzufolgen. Wenn uns auch nur eine geringe Widerwärtigkeit aufstoßt, so lassen wir allzu geschwind den Mut sinken und suchen menschlichen Trost.

4. Suchten wir, wie tapfere Männer, im Kampfe fest zu stehen, so würde ganz gewiss die Hilfe des Herrn vom Himmel über uns kommen. Denn Er ist bereit, denjenigen zu helfen, welche streiten und auf Seine Gnade hoffen, weil Er uns die Gelegenheit zu streiten nur deswegen verschafft, damit wir überwinden. Wenn wir unseren Fortgang im geistlichen Leben nur auf gewisse äußerliche Beobachtungen bauen, so wird unsere Andacht bald ein Ende haben. Wir müssen die Axt an die Wurzel setzen, damit wir von den bösen Neigungen gereinigt werden und den innerlichen Frieden genießen.

5. Wenn wir jedes Jahr auch nur einen Hauptfehler ausrotteten, so würden wir bald zur Vollkommenheit gelangen. Aber jetzt erfahren wir oft im Gegenteile, dass wir beim Anfange unserer Bekehrung besser und reiner waren, als nach vielen Jahren des klösterlichen Lebens. Der Eifer und der Fortgang sollte täglich zunehmen; und jetzt scheint es schon etwas Großes zu sein, wenn einer einen Teil seines ersten Eifers erhalten kann. Wenn wir gleich am Anfange ein wenig Gewalt anlegten, so würden wir nachher alles mit leichter Mühe und mit Freuden tun können.

6. Es ist gewiss schwer, seine Gewohnheiten abzulegen, aber es ist noch viel schwerer, seinem Eigenwillen entgegenzuhandeln. Wenn du aber das Geringe und Leichte nicht überwindest, wie wirst du das Härtere überwinden? Widerstehe deiner Neigung gleich anfangs und lege die böse Gewohnheit ab, damit sie dir nicht nach und nach mehr Beschwerde verursache. O wenn du wüsstest, welch süßen Frieden du dir verschaffen und welche Freude du anderen machen würdest, wenn du deine Pflicht erfülltest; gewiss, du würdest mehr besorgt sein, in dem geistlichen Leben Fortschritte zu machen.

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Zwölftes Kapitel
Vom Nutzen der Widerwärtigkeit.

1. Es ist uns gut, dass wir bisweilen einige Beschwerden und Widerwärtigkeiten haben, will sie dem Menschen die Augen öffnen, damit er erkenne, er sei außer seinem Vaterlande in dem Elende, und damit er seine Hoffnung auf keine Sache in der Welt setze. Es ist gut, dass wir bisweilen Widerreden zu erdulden haben, dass man böse von uns denkt und uns für unvollkommen hält, wenn schon unsere Werke und Absichten gut sind. Dieses ist oft zur Demut behilflich und beschützt uns vor der eitlen Ehre. Denn dann suchen wir viel aufrichtiger Gott zum Zeugen unseres Herzens zu haben, wenn wir von den Menschen äußerlich verachtet werden und wenn man auf unser Misstrauen setzt.

2. Darum sollte sich der Mensch so ganz an Gott halten, sodass er gar nicht nötig hätte, bei den Menschen Trost zu suchen. Wenn der Mensch, welcher einen guten Willen hat, in Trübsal gerät oder von Versuchungen geplagt oder von bösen Gedanken gequält wird, so sieht er viel besser ein, wie notwendig ihm der Beistand Gottes ist; alsdann begreift er, dass er ohne Ihn unfähig ist, etwas Gutes zu tun. Dann wird er auch betrübt, er seufzt und betet wegen der Armseligkeiten, welche er leidet. Dann hat er einen Ekel vor dem längeren Leben; er wünscht, der Tod sollte bald kommen, damit er aufgelöst würde und mit Christus leben könnte. Dann merkt er auch wohl, dass eine gänzliche Sicherheit und ein vollkommener Friede in dieser Welt nicht bestehen könne.

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Dreizehntes Kapitel
Von dem Widerstande gegen die Versuchungen.

1. Solange wir in dieser Welt leben, können wir von Trübsalen und Versuchungen nicht frei sein. Deswegen steht in dem Buch Job geschrieben: „Das Leben des Menschen auf Erden ist ein beständiger Streit.“ Daher sollte ein jeder wegen seiner Versuchungen in Sorgen sein, wachen und beten, damit der böse Feind keine Gelegenheit finde, ihn zu betrügen, denn er schläft niemals, sondern geht immer umher und suchet, wen er verschlinge. Niemand ist in der Vollkommenheit und Heiligkeit so weit gekommen, dass er nicht bisweilen Versuchungen empfindet, ja gänzlich können wir davon niemals befreit sein.

2. Die Versuchungen sind dem Menschen oft sehr nützlich, obwohl sie lästig und beschwerlich sind, denn in den Versuchungen wird er gedemütigt, gereinigt und belehrt. Alle Heiligen sind durch Trübsale und Versuchungen gewandelt und auf diesem Wege in der Tugend vorwärts geschritten. Diejenigen aber, welche die Versuchungen nicht aushalten mochten, wurden verworfen und verließen den Weg der Tugend. Es ist kein Stand so heilig, kein Ort so geheim, wo nicht Versuchungen und Widerwärtigkeiten sind.

3. Solange der Mensch lebt, ist er vor Versuchungen niemals ganz sicher, weil die Quelle und die Ursache der Versuchungen in uns ist, seitdem wir in der Begierlichkeit geboren worden sind. Weicht eine Versuchung oder eine Trübsal, so kommt gleich eine andere nach; und wir werden allzeit etwas zu leiden haben. Denn wir haben unsere ursprüngliche Glückseligkeit verloren. Viele wollen die Versuchungen fliehen und fallen in noch schwerere. Durch die Flucht allein können wir nicht überwinden, sondern durch Geduld und durch wahre Demut werden wir stärker als alle Feinde.

4. Wer nur äußerlich dem Übel abhelfen will und die Wurzel nicht ausreißt, der wird wenig ausrichten; die Versuchungen werden sogar geschwinder wieder zurückkommen, und es wird mit ihm nur schlimmer werden. Nach und nach, durch Geduld und Langmut, wirst du mit dem Beistande Gottes besser überwinden, als mit einiger Strenge und Ungestümigkeit. Zur Zeit der Versuchung beratschlage dich öfters mit anderen; und gehe mit Leuten, welche versucht werden, nicht hart um, sondern bemühe dich, ihnen Trost beizubringen, ebenso wie du wolltest, dass man in gleichen Umständen mit dir verfahren sollte.

5. Der Anfang aller sündhaften Versuchungen ist Unbeständigkeit des Gemüts und Mangel an Vertrauen auf Gott. Denn gleich wie ein Schiff ohne Steuerruder von den Wellen hin- und hergeworfen wird, ebenso wird ein träger Mensch, welcher seinem Vorsatz nicht getreu bleibt, auf verschiedene Arten versucht. Das Eisen wird durch Feuer und der gerechte Mensch durch Versuchung geprüft. Wir wissen oft nicht, was wir vermögen, aber die Versuchung zeigt uns, was wir sind. Übrigens muss man vorzüglich im Anfange der Versuchung wachen, weil der Feind leichter dann überwunden wird, wenn man ihm keinen Eingang in s Herz gestattet, sondern sich ihm gleich, sobald er anklopft und da er noch außer der Türe ist, widersetzt. Daher sagt ein alter Dichter:

Gleich im Anfang musst du eilen; Die Arznei kommt sonst zu spat, Wenn das Übel durch Verweilen Schon um sich gefressen hat. Denn zuerst stellt sich im Gemüte ein bloßer Gedanke ein, dann entsteht eine heftige Einbildung; darauf folgt die böse Lust und endlich sündhafte Bewegung und Einwilligung. Und so dringt sich der boshafte Feind nach und nach gänzlich ein, wenn man ihm nicht gleich anfangs Widerstand leistet. Und je länger der Mensch aus Trägheit nicht widersteht, desto mehr nehmen seine Kräfte täglich ab und desto mächtiger wird der Feind wider ihn.

6. Einige haben schwere Versuchungen zu leiden im Anfange ihrer Bekehrung, andere aber am Ende. Einige werden fast ihre ganze Lebenszeit hart geplagt; dagegen werden einige niemals hart versucht, wie es nämlich Gott gemäß Seiner Weisheit und Billigkeit anordnet, indem Er auf den Zustand und auf die Verdienste der Menschen sieht und alles zum Heile Seiner Auserwählten vorher bestimmt.

7. Wir müssen deswegen den Mut nicht sinken lassen, wenn wir versucht werden, sondern desto eifriger Gott bitten, dass Er sich würdige, uns in allen Trübsalen Hilfe zu leisten. Er wird auch, nach dem Ausspruche des hl. Paulus, die Versuchungen so mäßigen, dass wir dieselben ertragen können. Demütigen wir uns also unter der mächtigen Hand Gottes von ganzem Herzen in allen Versuchungen und Trübsalen, denn Er wird die im Geiste Demütigen erretten und erhöhen.

8. Die Versuchungen und Trübsale zeigen, was für einen Fortgang der Mensch in der Tugend gemacht hat; er hat da auch ein größeres Verdienst, und seine Tugend erscheint in einem helleren Lichte. Es ist nichts Großes, dass ein Mensch andächtig und eifrig ist, wenn er keine Beschwerde empfindet; aber wenn er zur Zeit der Widerwärtigkeit geduldig aushält, so kann man hoffen, er werde einen großen Fortgang machen. Einige werden vor heftigen Versuchungen bewahrt, aber oft in täglichen und leichten überwunden, damit sie gedemütigt werden und sich in heftigen Anfällen niemals auf sich selbst verlassen, wenn sie ihre Schwachheit bei so leichten Gelegenheiten erfahren.

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Vierzehntes Kapitel
Man soll kein freventliches Urteil fällen.

1. Wende deine Augen auf dich selbst und hüte dich, die Handlungen anderer zu richten. Im Urteilen über andere gibt sich der Mensch vergebliche Mühe, er irrt oft und fällt leicht in eine Sünde; wenn er aber sich selbst richtet und sein eigenes Gewissen erforscht, ist seine Bemühung allzeit nützlich. Wie die Neigung, welche wir zu einer Sache tragen, so ist auch oft unser Urteil beschaffen, denn aus Eigenliebe urteilen wir leicht falsch. Wenn Gott allzeit die reine Absicht unserer Begierden wäre, so würden wir auch nicht so leicht beunruhigt und verwirrt werden, sobald etwas nicht nach unserem Sinne geht.

2. Aber oft liegt etwas im Herzen verborgen oder es kommt von außen etwas dazu, was uns antreibt und lenkt. Viele suchen, ohne es selbst zu wissen, heimlich sich selbst in jenen Dingen, welche sie tun. Sie scheinen in guter Ruhe zu sein, wenn alles nach ihrem Willen und Sinn geht; geht es aber anders, als sie es verlangen, so geraten sie sogleich in Verwirrung und fallen in Traurigkeit. Wegen Verschiedenheit des Sinnes und der Meinungen entstehen sehr oft Uneinigkeiten unter Freunden und Nachbarn, unter Ordensleuten und andächtigen Seelen.

3. Eine alte Gewohnheit wird schwer abgelegt und niemand lässt sich leicht bewegen, wider seine Meinung zu handeln. Wenn du dich daher mehr auf deine Vernunft und auf deinen Fleiß stützest, als auf die obsiegende Gnade Jesu Christi, so wirst du kaum oder doch wenigstens sehr langsam im Geiste erleuchtet werden, denn Gott will, dass wir uns Ihm vollkommen unterwerfen und uns durch eine inbrünstige Liebe über alle Vernunft erschwingen.

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Fünfzehntes Kapitel
Von den Werken, welche aus Liebe verrichtet werden.

1. Man muss um keinen Preis und keinem Menschen zuliebe jemals etwas Böses tun; man muss aber auch bisweilen ein gutes Werk zum Nutzen eins Dürftigen ohne Bedenken unterlassen oder auch mit einem besseren verwechseln. Denn wenn dieses geschieht, wird das gute Werk nicht unterbleiben, sondern nur in ein besseres verändert. Ohne Liebe nützt das äußerliche Werk nichts; alles aber, was aus Liebe geschieht, so gering und verächtlich es immer sein mag, wird doch verdienstlich. Denn Gott sieht mehr auf die Gesinnung, mit welcher jemand etwas verrichtet, als auf das Werk, welches verrichtet wird.

2. Wer viel liebt, tut viel; wer die Sache wohl verrichtet, wirkt viel; derjenige aber verrichtet die Sache wohl, welcher mehr auf den allgemeinen Nutzen, als auf seinen Willen sieht. Es scheint oft etwas Liebe zu sein und ist doch nur eine Begierde des Fleisches, weil die natürliche Neigung, der eigene Wille, die Hoffnung einer Vergeltung, die Begierde zur Bequemlichkeit, selten fehlen.

3. Wer eine wahre und vollkommene Liebe hat, der sucht in keiner Sache sich selbst, sondern verlangt nur, dass Gott in allen verherrlicht werde. Er beneidet keinen, weil er keine eigene Freude zu haben trachtet und sich in sich selbst nicht erfreuen will, sondern mit Hintansetzung aller anderen Güter nur in Gott seine Glückseligkeit zu finden wünscht. Er schreibt niemand etwas Gutes zu, sondern führt alles auf Gott zurück, von welchem alles ursprünglich herkommt und in welchem endlich alle Heiligen eine vollkommene glückselige Ruhe genießen. O wenn jemand auch nur einen Funken der wahren Liebe hätte, so würde er in der Tat erkennen, dass alles Irdische voll Eitelkeit ist.

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Sechzehntes Kapitel
Von der Ertragung fremder Fehler.

1. Was der Mensch an sich selbst oder an anderen nicht bessern kann, das muss er mit Geduld übertragen, bis es Gott anders fügt. Denke nur, es diene vielleicht dazu, dich zu prüfen und dir eine Gelegenheit der Geduld zu verschaffen, ohne welche unsere Verdienste nicht viel zu achten sind. Doch musst du bei solchen Hindernissen Gott eifrig bitten, dass Er sich würdige, dir zu Hilfe zu kommen, damit du alles mit ruhigem Gemüte übertragen mögest.

2. Wenn jemand der ersten oder zweiten Ermahnung nicht Gehör gibt, so lass dich mit ihm in keinen Streit ein, sondern stelle alles Gott anheim, damit Sein Wille in allen Seinen Dienern vollzogen und Seine Ehre befördert werde. Er weiß gar wohl das Böse zum Guten zu wenden. Befleiße dich, fremde Fehler und Schwächen mit Geduld zu übertragen, denn du hast auch vieles, was andere an dir gedulden müssen. Wenn du es nicht einmal mit dir selbst so weit bringst, dass du bist, wie du zu sein wünschest: wie kannst du verlangen, dass sich andere nach deinem Wunsche fügen? Wir wünschen, dass andere vollkommen sein möchten, und unsere eigenen Fehler verbessern wir doch nicht.

3. Wir fordern, andere sollen mit aller Strenge gebessert werden, und wir selbst wollen uns nicht bessern lassen. An anderen missfällt uns die allzu große Freiheit, und wir selbst wollen uns nicht abschlagen lassen, was wir begehren. Wir wollen, andere sollen durch Gesetze eingeschränkt werden, wir aber leiden nicht den geringsten Zwang. Daher ist es offenbar, dass wir unseren Nächsten selten wie uns selbst ansehen. Wenn alle vollkommen wären, was hätten wir alsdann von anderen für Gott zu leiden?

4. Nun hat es aber Gott so gefügt, damit einer des anderen Last tragen lerne, weil niemand ohne Fehler, niemand ohne Last ist. Niemand ist sich selbst genug, niemand sich selbst ganz weise; sondern wir müssen einander übertragen, einander trösten, einander zu Hilfe kommen, einander unterrichten und ermahnen. Wie weit aber jemand in der Tugend gekommen ist, das sieht man zur Zeit der Widerwärtigkeit viel besser. Denn die Gelegenheiten machen den Menschen nicht erst gebrechlich, sie zeigen nur an, wie er beschaffen ist.

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Siebzehntes Kapitel
Vom Klosterleben.

1. Zuerst musst du dich selbst in vielen Stücken überwinden lernen, wenn du mit anderen im Frieden und in Einigkeit leben willst. Es ist nichts Geringes, in einem Kloster oder in einer geistlichen Gemeinde wohnen und darin ohne Klage wandeln und bis in den Tod getreu verbleiben. Glückselig ist derjenige, welcher dort gut gelebt und seinen Lauf wohl vollendet hat. Wenn du deine Schuldigkeit tun und im Guten zunehmen willst, so musst du dich selbst als einen Vertriebenen und als einen Wanderer auf dieser Erde ansehen. Du musst um Christi willen ein Tor werden, wenn du ein geistliches Leben führen willst.

2. Das Ordenskleid und die Tonsur tragen nicht viel bei, sondern die Veränderung der Sitten und eine vollkommene Abtötung der bösen Neigungen machen einen wahren Ordensmann aus. Wer etwas anderes sucht, als Gott und das Heil seiner Seele, der wird nichts als Trübsal und Schmerzen finden. Wer sich nicht befleißt, der Geringste und allen untertänig zu sein, der kann nicht lange im Frieden leben.

3. Zum Dienen bist du gekommen, nicht zum Regieren; zum Leiden und Arbeiten bist du berufen, nicht aber zum Müßiggang und Plaudern. Hier werden also die Menschen geprüft, wie das Gold im Schmelzofen. Hier kann niemand aushalten, außer wer sich wegen Gott von ganzem Herzen demütigen will.

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