Sieh, o Herr, hier sind die Wunden meiner Seele.
Dein lebendiges und kraftvolles Auge, das bis zur Scheidung von Seele und Geist dringt,
sieht alles.
So siehst Du mein Herr, ganz gewiss in meiner Seele
die Spuren meiner früheren Sünden und die Gefahren der Gegenwärtigen,
Du siehst aber auch die Ursachen und Quellen für künftige Sünden.
Das siehst Du, Herr,
und ich will auch, dass Du es siehst.
Du weißt nämlich, Du Erforscher meines Herzens,
dass es in meiner Seele nichts gibt, was ich vor Deinen Augen verbergen möchte, selbst wenn ich mich ihrem Blick entziehen könnte.
Wehe jenen, deren Wille es ist, sich vor Dir zu verbergen! Was sie nämlich erreichen, ist nicht, von Dir nicht gesehen zu werden, sondern eher, von Dir nicht geheilt, sondern bestraft zu werden. Sieh mich, mein geliebter Herr, sieh mich!
Ich hoffe nämlich, Du Barmherzigster,
dass Du in Deiner Liebe auf mich blicken wirst als der gewissenhafte Arzt, um mich zu heilen, oder als der gütigste Lehrer, um mich zurechtzuweisen, oder als der nachsichtigste Vater, um mir zu verzeihen.Das also ist es, Du Quell der Liebe,
worum ich im Vertrauen auf Deine allmächtigste Barmherzigkeit und Deine barmherzigste Allmacht bitte:
dass Du in der Kraft Deines wunderbaren Namens und des Geheimnisses Deiner heiligen Menschheit
mir meine Sünden vergibst
und die Krankheiten meiner Seele heilst.
Gedenke Deiner Güte, nicht meiner Undankbarkeit!Und gegen die Laster und schlimmen Leidenschaften, die noch immer meine Seele bedrängen – sei es auf Grund meiner alten schlechten Gewohnheit, sei es durch meine täglichen und zahllosen Nachlässigkeiten, durch die Schwäche meiner verderbten und lasterhaften Natur oder durch die versteckte Versuchung böser Geister – , möge mir deine liebreiche Gnade Kraft und Stärke verleihen, dass ich nicht zustimme, dass sie nicht in meinem sterblichen Leib herrschen, dass ich ihnen nicht meine Glieder als Waffen der Ungerechtigkeit zur Verfügung stelle, bis Du schließlich ganz meine Krankheiten heilst, meine Wunden gesund pflegst und meine Entstellung wieder gerade machst.
Dein guter und liebevoller Geist senke sich herab in mein Herz und bereite sich darin eine Wohnung;
er reinige es von jeder Befleckung des Fleisches und Geistes und gieße ihm Glaube, Hoffnung und Liebe
sowie den Geist der Reue, der Sanftmut und Menschenliebe ein.
Er lösche mit dem Tau seines Segens die Glut der Begierden
und töte mit seiner Kraft die Regungen der Begierde und die Leidenschaften des Fleisches.
Bei meinen Mühen, beim Wachen, bei der Enthaltsamkeit
schenke er mir die rechte Glut, Dich zu lieben und zu loben,
zu beten und zu meditieren und jedes Handeln und Denken,
meine ganze Andacht und Tätigkeit nach Dir auszurichten;
und in alldem verleihe er mir
Beharrlichkeit bis ans Ende meines Lebens.
Aelred von Rievaulx, Hirtengebet
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