Konstantinopel, 29. Mai 1453
Fast 1000 Jahre nach dem Untergang des weströmischen Reiches fallen Ostrom und das Morgenland an Sultan Mehmed, während das Abendland zu Europa wird, mit einem dritten Rom als neuem Nachbarn im Osten.
Ein enger Gang führt dahinter zu einer schmalen Treppe, auf einen zweiten Flur hoch, zu einem engen ummauerten Balkon hinaus, von wo wir eine ferne Rauchwolke über dem Meer zum Himmel hochsteigen sehen. Das ist Byzanz. Da hinten brennt Konstantinopel. Das ist das Ende des zweiten Roms Kaiser Konstantins, sein neues Jerusalem, wo Staat und Kirche wie nirgendwo sonst mehr in Europa zur fast vollständigen Deckung gekommen sind – wenn auch in einer klaren Hierarchie: unter der Herrschaft der Selbstherrscher und Kaiserpäpste, und einer bestechend einfachen Staatsdoktrin. Wer innerhalb dieses Reiches lebt, gehört zum Volk Gottes. Hier geht es zugrunde.
Denn nun ist Sultan Mehmed gerade in die Schöne eingedrungen. Hinter den Mauern geht es apokalyptisch zu, das Wehgeschrei nimmt kein Ende. Janitscharen vergewaltigen in der Hagia Sophia die schönsten Nonnen der Stadt und besaufen sich mit Messwein auf dem Altar.
Der letzte Kaiser Ostroms ist nur noch an seinen goldenen Adlerschuhen unter Bergen von Gefallenen zu identifizieren. Auch er heißt wieder Konstantin – wie sein Vorgänger, der das christliche Rom 1100 Jahre zuvor begründet hat.
„Menschen von allen Seiten strömten der großen Kirche zur Heiligen Weisheit zu“, heißt es dazu in einem Bericht über den letzten Tag, bevor die Mauern Konstantinopels brachen.
„Kaum ein Bürger, mit Ausnahme der Soldaten auf den Mauern, blieb dem verzweifelten Bittgottesdienst fern. Priester, in deren Augen die Union mit Rom eine Todsünde war, raten an den Altar, um zusammen mit ihren unionistischen Brüdern die Messe zu zelebrieren. Jedermann war gekommen, um die Beichte abzulegen und das Abendmahl zu empfangen, ohne zu achten, ob der Priester ein Orthodoxer oder ein Katholik war. Die goldenen Mosaiken mit den Abbildern Christi schimmerten im Licht von tausend Lampen und Kerzen. Unter ihnen bewegten sich zum letzten Mal die Priester in ihren herrlichen Messgewändern im feierlichen Rhythmus der Liturgie. In diesem Augenblick war die Kirche geeint.“
Einen Tag später war die alte Schwester des Westens gefallen.
Seit diesem 29. Mai 1453 wird „Europa“ zum Namen für das alte Abendland.
Und Konstantinopel wird zu Istanbul, zur „Hohen Pforte“ der islamischen Welt.
Im alten Morgenland erklärt aber kurz danach der Mönch Filofej das kerzenknisternde, ikonenschimmernde und hölzerne Moskau vor dem Ural zur Nachfolgerin Konstantinopels: zum „dritten Rom“.
Von diesem Tag an werden Rom und Moskau zu den eifersüchtigsten Nebenbuhlerinnen um das Herz Europas: das neue Byzanz im Osten, wo die Kirche seit Theodosius eine Sklavin der Herrscher war, und das alte Rom im Westen, wo die Kirche seit Ambrosius ein Widerpart aller Herrscher ist.
Moskau, die neue Dame im Europäischen Haus! Es ist noch keine sechshundert Jahre her, dass die ersten slawischen Völker – denen Moskau nun vorsteht – im Auftrag zuerst des Kaisers von Byzanz und dann der Päpste von Bayern und Mähren her zum Christentum bekehrt worden sind. Das hatten zwei Griechen fast ganz allein besorgt, die beiden Brüder Kyrillos und Methodios, und auch sie wieder, wie vorher schon die Iren unter den Franken, mit dem wichtigsten kulturellen Instrument jener Zeit überhaupt unter dem Arm: mit dem Buch.
Für die schriftlosen Slawen haben sie dafür eigens eine neue Schrift entwickelt, die bald für den Osten so bedeutend wird, wie es die Regel des Benedikt für den Westen schon geworden ist. Wie ein Kontrastmittel zeichnet seitdem das griechische und kyrillische neben dem lateinischen Alphabet die Texte und Landkarte einer einzigartigen Konfliktgeschichte zwischen Ost und West in Europa. …
(Aus: Paul Badde. Abendland)
Paul Badde
Abendland
Die Geschichte einer Sehnsucht
FE-Medienverlag 2020
ISBN: 978-3863572907
464 Seiten; 17,80 Euro
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