Wenn wir Maria als die Königin des Alls neben ihrem Sohn bezeichnen – der Ausdruck König oder Königin als menschliche Bezeichnung, um damit die Herrschaft des Sohnes Gottes über alles Erschaffene zu beschreiben -, erkennen wir Maria als die Herrscherin an, weil Gott ihr diese Herrschaft über Engel und Menschen gegeben hat. Sie ist die Königin des Universums, größer als sie ist nur Gott. Wenn die Kirche den Begriff „Königin der Apostel“ verwendet, unterstreicht sie den besonderen Beistand, den diese und ihre Nachfolger von Maria, der Hilfe der Christen und Mutter der Kirche erfahren. In Kevelaer steht vor der Gnadenkapelle die Anrufung Auxilium episcoporum; denn die Bischöfe brauchen eine besondere Gnade und sollen der Hilfe der Gottesmutter sicher sein, damit sie ihrem Auftrag treu sind und ihr Amt zum Wohle der Christen aus-üben.
Aber auch wir alle haben einen Auftrag vom Herrn erhalten, der es uns erlaubt, uns „Apostel“ zu nennen. Ähnlich wie den zwölf Aposteln gilt auch uns der gebieterische Befehl des Herrn: „…Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern … und lehrt sie alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.“ (Mt 28,19 f.) Auch wir sind als Gesandte Gottes berufen und bekleiden so das Amt Jesu Christi. Als Christen sind wir besonders verbunden mit Christus; als Christen bekommen wir unseren Christennamen von ihm, wie der hl. Augustinus sagt: Christsein kommt von Christus wie Römer von Rom. „Aus seiner Fülle haben alle empfangen Gnade über Gnade …; die Gnade und die Wahrheit kamen durch Jesus Christus.“ (Joh 1,16 f.)
Wir sind also zum Apostolat durch Gott selbst berufen worden, d. h. von Jesus in die Welt gesandt, uns als „lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen“ zu lassen, „zu einer heiligen Priesterschaft“ (1 Petr 2,5). Gott selbst hat uns bestellt, damit wir das Werk Jesu fortsetzen, um unseres Heiles willen, wie wir es im Glaubensbekenntnis aussprechen. Wir können diesen Auftrag, diese persönliche, göttliche Beauftragung, nicht den Bischöfen und den Priestern oder auch den Ordens-leuten allein zuschreiben, obwohl diese durch eine besondere Berufung der Kirche dienen wollen. Die Kirche muss ständig wachsen und sich erneuern. Sie muss der Welt die Lehre Jesu Christi vermitteln. Alle, die die Kirche bilden, sind mit diesem Auftrag betraut. Niemand ist von der Last dispensiert, die der Herr uns bei der Taufe anvertraut hat.
Die Bischöfe und Priester sind als Hirten für das Volk Gottes berufen. Sie sollen uns das Wort Christi lehren und die Sakramente spenden. Dies ist ihre originäre und eigentliche Aufgabe als Hirten. Als solche haben sie keine Jurisdiktion über die Nicht-Getauften; diese gehören nicht ihrer Diözese an und sind nicht ihre Pfarrkinder. Doch schon als Christen haben sie wie alle Gläubigen die gleichen Pflichten: Christus hat alle zum Apostolat berufen, wenn auch in verschiedener Weise. Als Christen sind wir dazu berufen, die Menschen davon zu überzeugen, dass Jesus sie liebt, dass der Sohn Gottes in die Welt gekommen ist, um uns zu erlösen.
„Da es aber Gott gefiel, das Sakrament des menschlichen Heils nicht eher feierlich zu offenbaren, als bis er den von Christus verheißenen Geist ausgoss, sehen wir, wie die Apostel vor dem Pfingsttag «einmütig im Gebet verharren mit den Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern» (Apg 1,14) und wie auch Maria mit ihren Gebeten die Gabe des Geistes erfleht, der sie schon bei der Verkündigung über-schattet hatte“ . Bei der Firmung betet die Kirche für den Firmling, und die Gottesmutter steht ihm bei, indem sie die Gaben des Heiligen Geistes für ihn erfleht. So ist Maria Mutter der Kirche und Mutter eines jeden Christen, dem sie als Vermittlerin der Gnade hilft, seine Aufgaben mit Freude und Dankbarkeit zu erfüllen.
Es ist der Auftrag der Kirche, den Menschen den Weg zu Gott und die Wahrheit über Gott und seine Geschöpfe zu zeigen und sie zum ewigen Leben zu führen, indem sie sie zu Jesus führt (siehe z. B. Joh 14,6; 3,36; 17,14-17). Christus ist in die Welt gekommen und hat seine Kirche gegründet, damit sie den Menschen das Heil zeigt.
Maria, „die selige Jungfrau (aber) ist durch das Geschenk und die Aufgabe der göttlichen Mutterschaft, durch die sie mit ihrem Sohn und Erlöser vereint ist, und durch ihre einzigartigen Gnaden und Gaben auch mit der Kirche auf innigste verbunden.“ Sie hilft den Christen mit mütterlicher Aufmerksamkeit, alle Verpflichtungen zu erfüllen, die uns auszeichnen sollen: die Heiligkeit und das Apostolat. Die erste Pflicht ist Voraussetzung für die zweite. Niemand, der nicht danach strebt heilig zu werden, kann die Lehre der Kirche vermitteln; keiner wird apostolisch wirken können, ohne gleichzeitig die Heiligkeit anzustreben. Jesus lehrte zwar die Menschen mit Klarheit und Autorität: „Die Worte, die ich zu euch gesprochen habe, sind Geist und sind Leben“ (Joh 6,63); aber er zeigte ihnen vorher den Weg: „Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,29); und: Jesus tat und lehrte (vgl. Apg 1,1). Die Heilige Schrift zeigt uns: zuerst das Tun, dann das Lehren.
Das Apostolat des Lehrens ist gut; aber noch wichtiger ist das Apostolat des Handelns: Jesus wollte nicht lehren – sagt der hl. Augustinus -, was er selbst nicht war; er wollte nichts fordern, was er selbst nicht tat. Durch gute Werke in Heiligkeit erreichen wir die Gnade, die Gott uns schenkt, und überzeugen die Menschen. Denn so spricht der Herr: „Ich habe euch gesandt zu ernten, wofür ihr nicht gearbeitet habt; andere haben gearbeitet, und ihr erntet die Frucht ihrer Arbeit.“ (Joh 4,38) Maria, die voll der Gnade ist, die unbefleckt Empfangene, die Immaculata hilft uns dabei, das Reich Gottes unter den Menschen sichtbar zu machen. Sie tut es, wie bei den Aposteln, durch ihr Gebet und ihre Fürsprache: „Die Allerseligste Jungfrau Maria hat durch unseren Herrn Jesus Christus alle natürlichen Eigenschaften der Frau angenommen, um jedem Menschen, der seine Zuflucht zu ihr nimmt, hilfreich beizustehen als neue Eva.“
Der wahre Weg zu Gott, den wir den Menschen zeigen sollen, ist nicht nur der Weg der guten Werke, sondern auch der des Kreuzes. Das ist der Schlüssel, der uns den Himmel öffnet. Und Maria stand beharrlich bei dem Kreuz Christi (Joh 19,25). Der Christ sieht in Maria seine Mutter; in diesem Spiegel der Gerechtigkeit sieht er, wie er sich in sein jeweiliges Kreuz zu fügen hat. Maria verdiente uns mit Christus die Fähigkeit zum Apostolat, aber auch wir müssen uns, wie sie, um das Heil der Menschen verdient machen durch Gebet und Ertragen der Widrigkeiten des Lebens.
Der hl. Augustinus lehrt uns: „Wo der Christ große Leiden er-fährt, da spendet Gott großen Trost; bitter sind die Wunden, aber milde sind die Heilmittel … Wer trösten will, muss sich mit dem Leidenden identifizieren; denn bevor er zu trösten vermag, muss er das Leiden empfinden“ . Für einen Christen gilt: „Deshalb seid ihr voll Freude, obwohl ihr jetzt vielleicht kurze Zeit unter mancherlei Prüfungen leiden müsst.“ (1 Petr 1,6) Erleiden nicht viele verfolgte Christen mancherlei Prüfungen und sind trotzdem froh, wenn sie einen Gottesdienst besuchen können? Es stimmt: „Wer Schmerz leidet, kann nicht getröstet werden, wenn er nicht den Schmerz aufopfert“ . Und so geht es dem Menschen miserabel, wenn er den wahren geistlichen Trost verliert .
Selbst Nicht-Christen raten uns, „das Missgeschick oder Unglück als eine Gelegenheit zur Tugendübung“ zu erachten ; denn „im Missgeschick oder Unglück glänzt die Tugend“ . „Der Gerechte muss viel leiden, doch der Herr wird ihn allem entreißen.“ (Ps 34,20).
Als der Kaiser von Laurentius die Übergabe der Reichtümer der Kirche verlangte, sammelte Laurentius die Alten, Armen und Kranken und stellte sie vor den Kaiser: „Hier sind die wahren Schätze der Kirche.“ Darauf erlitt Laurentius das Martyrium. Die Kranken, Leidenden und Krüppel, die nach Fatima, Guadalupe, Lourdes oder Kevelaer pilgern, werden meistens nicht geheilt, aber sie werden getröstet, weil sie sehen, wie viele Leiden es in der Welt wegen der Sünde gibt; sie verstehen, dass sie ihre Betrübnisse nicht vergeblich erdulden und dass zur Miterlösung mit Christus gerufen sind.
Wir sind wie Maria zur Miterlösung für unsere Sünden bestimmt: „Legt (als neues Gewand) den Herrn Jesus Christus an“ (Röm 13,14). „Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,24). Das gehört zu unserer Berufung in dieser Welt: mit Maria für den Leib Christi, die Kirche, zu ergänzen, was an den Leiden Christi noch fehlt (Kol 1,24). Das heißt nicht, dass wir den Leib nicht beachten sollten, kein Mensch „hat je seinen eigenen Leib gehasst, sondern er nährt und pflegt ihn“ (Eph 5,29); aber wir schenken die Leiden und Betrübnisse dem Herrn, um „durch ihn, mit ihm und in ihm Gott Vater zu verherrlichen .
Als Jesus sein Leben für uns hingab, ist Maria nicht verzweifelt. Sie war in Gedanken bei uns, die wir der Grund der Leiden ihres Sohnes waren. Sie wusste es; sie hatte die Lehre des Sohnes Gottes richtig verstanden; sie opferte ihr Leid um ihren Sohn für uns auf. So ist Maria, die Mutter Gottes, die Trösterin der Betrübten! „Saugt euch satt an ihrer tröstenden Brust und labt euch an ihrem mütterlichen Reichtum!“ (Jes 66,11)
Maria gehört zu Gott. Sie ist die Magd des Herrn und die Immaculata; aber sie ist für uns auch die Mutter des guten Rates. „Was er euch sagt, das tut!“ (Joh 2,5) Wie den Dienern in Kana so empfiehlt sie es auch uns. Gleichzeitig ist sie die Jungfrau, mächtig zu helfen, Virgo potens: „dixit Verbum, et omnia facta sunt; dixit Maria, et Verbum caro factum est“, sagt voll Erstaunen der hl. Thomas: „Das Wort spricht, und alles ist geworden; es spricht Maria, und das Wort ist Fleisch geworden“. Die Kirche ruft zu ihrer Mutter: Mehr als du ist nur Gott! So beten die Christen seit eh und je: „Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir, heilige Gottesgebärerin; verschmähe nicht unser Gebet in unseren Nöten, sondern erlöse uns jederzeit von allen Gefahren, o du glorreiche und gebenedeite Jungfrau, unsere Frau, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin. Versöhne uns mit deinem Sohne, empfiehlt uns deinem Sohne, stelle uns vor deinem Sohne“ .
(German Rovira. Die Auserwählung Marias. Eine Betrachtung,
in: Sedes Sapientiae. Mariologisches Jahrbuch, 14 (2010) Bd. 2)
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