Eine Kirche, die auf dem Kopf steht

Gespräch mit Pater Davide Pagliarani, Generaloberer der Priesterbruderschaft St. Pius X.

Herr Pater Generaloberer, bis Ende des Jahres werden wichtige Ereignisse erwartet, so die Amazonas-Synode und die Reform der Römischen Kurie. Sie werden einen historischen Einfluss auf das Leben der Kirche haben. Welchen Platz nehmen sie Ihrer Meinung nach im Pontifikat von Papst Franziskus ein?

Der Eindruck, den viele Katholiken derzeit haben, ist der einer Kirche am Rand einer neuen Katastrophe. Wenn wir zurückblicken, war das Zweite Vatikanische Konzil selbst nur möglich, weil es das Ergebnis einer Dekadenz war, die die Kirche in den Jahren vor dessen Eröffnung erfasste: Ein Damm brach ein unter dem Druck einer Kraft, die seit einiger Zeit am Werk war. Das ist es, was die großen Revolutionen erfolgreich macht, denn der Gesetzgeber billigt und sanktioniert lediglich eine Situation, die zumindest teilweise bereits eine Tatsache ist.

Die liturgische Reform war somit nur der Schlusspunkt einer experimentellen Entwicklung, die auf die Zwischenkriegszeit zurückging und bereits einen großen Teil des Klerus durchdrungen hatte. Unter diesem Pontifikat war Amoris lætitia die Ratifizierung einer Praxis, die leider bereits in der Kirche besteht, insbesondere was die Möglichkeit des Kommunionempfangs betrifft für Personen, die im Zustand der öffentlichen Sünde leben. Heute scheint die Situation reif zu sein für weitere überaus tiefgreifende Reformen.

Können Sie Ihr Urteil über das apostolische Schreiben Amoris lætitia drei Jahre nach seiner Veröffentlichung näher erläutern?

Amoris lætitia stellt in der Geschichte der Kirche der letzten Jahre das dar, was Hiroshima oder Nagasaki für die moderne japanische Geschichte ist: Menschlich gesprochen, sind die Schäden irreparabel. Es ist zweifellos der revolutionärste Akt von Papst Franziskus und gleichzeitig der umstrittenste, auch außerhalb der Tradition, denn er wirkt sich direkt auf die Ehemoral aus; vielen Geistlichen und Gläubigen hat das ermöglicht, das Vorliegen gravierender Irrtümer zu erkennen. Zu Unrecht wurde dieses katastrophale Dokument dargestellt als das Werk einer exzentrischen und in ihren Worten provozierenden Persönlichkeit – was einige im jetzigen Papst sehen wollen. Das ist nichtzutreffend, und es ist unangemessen, die Frage auf diese Weise zu vereinfachen.

Sie scheinen zu unterstellen, dass diese Konsequenz unvermeidlich war. Warum widerstrebt es Ihnen, den gegenwärtigen Papst als eine originelle Persönlichkeit zu beschreiben?

Amoris laetitia ist de facto eines der Ergebnisse, die früher oder später aufgrund der vom Konzil vorgegebenen Voraussetzungen eintreten mussten. Schon Kardinal Walter Kasper hatte zugegeben und betont, dass der neuen Ekklesiologie, nämlich der des Konzils, ein neues Verständnis der christlichen Familie entspricht.1

Das Konzil ist in erster Linie ekklesiologisch, d.h. es legt in seinen Dokumenten eine neue Auffassung von der Kirche vor. Danach entspricht die von unserem Herrn gegründete Kirche nicht mehr einfach der katholischen Kirche. Sie ist breiter angelegt: Sie umfasst auch die anderen christlichen Konfessionen. Dem zu Folge käme den orthodoxen oder protestantischen Gemeinschaften aufgrund der Taufe die „Kirchlichkeit“ zu. Mit anderen Worten, die große ekklesiologische Neuheit des Konzils ist die Möglichkeit, der von unserem Herrn Jesus Christus gegründeten Kirche auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maß anzugehören. Daher der moderne Begriff der vollen oder teilweisen Gemeinschaft, man könnte sagen „mit variabler Geometrie“. Die Kirche ist strukturell offen und flexibel geworden. Die neue Art der Zugehörigkeit zur Kirche, die äußerst elastisch und variabel ist, und nach der alle Christen in derselben Kirche Christi vereint sind, ist der Ursprung des ökumenischen Chaos.

Wir sollten nicht denken, dass diese theologischen Neuerungen abstrakt sind, sie haben Auswirkungen auf das konkrete Leben der Gläubigen. Alle dogmatischen Irrtümer, die die Kirche betreffen, wirken sich früher oder später auf die christliche Familie aus, denn die Verbindung der christlichen Ehepartner ist das Bild der Verbindung zwischen Christus und seiner Kirche. Einer ökumenischen, flexiblen und panchristlichen Kirche entspricht eine Auffassung von der Familie, in der die Verpflichtungen der Ehe nicht mehr denselben Wert haben, in der die Bande zwischen den Eheleuten, zwischen einem Mann und einer Frau, nicht mehr auf die gleiche Weise wahrgenommen oder definiert werden: Auch sie werden flexibel.

Können Sie das noch weiter ausführen?

Konkret bedeutet das: So wie die „panchristliche“ Kirche Christi gute und positive Elemente außerhalb der katholischen Einheit habe, so gäbe es für die Gläubigen gute und positive Elemente auch außerhalb der sakramentalen Ehe, in einer Zivilehe und auch in jeder anderen beliebigen Verbindung. So wie es keinen Unterschied mehr gibt zwischen einer „wahren“ Kirche und „falschen“ Kirchen – da ja nicht-katholische Kirchen zwar unvollkommen, aber gut seien – werden alle Verbindungen gut, weil sich in ihnen immer etwas Gutes findet, und wenn es nur Liebe ist.

Das bedeutet, dass sich in einer „guten“ Zivilehe – insbesondere, wenn sie zwischen gläubigen Personen geschlossen wurde – gewisse Elemente der sakramentalen christlichen Ehe finden lassen. Nicht, dass man die beiden auf eine Stufe stellen solle; die Zivilehe ist jedoch nicht schlecht an sich, sondern einfach weniger gut! Bisher haben wir über gute oder schlechte Handlungen, über ein Leben im Gnadenstand oder in der Todsünde gesprochen. Jetzt gibt es nur noch gute oder weniger gute Handlungen; Lebensformen, die das christliche Ideal ganz erfüllen, und andere, die ihm nur teilweise entsprechen… In einem Wort, einer ökumenischen Kirche entspricht eine ökumenische Familie, d.h. eine Familie, die je nach Bedürfnissen und Empfindlichkeiten neu zusammengesetzt wird oder zusammensetzbar ist.

Vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil lehrte die Kirche, dass sich die nicht-katholischen christlichen Konfessionen außerhalb des Schoßes der wahren Kirche befinden und daher nicht Teil der Kirche Jesu Christi sind. Die Lehre der dogmatischen Konstitution über die Kirche, Lumen gentium (Nr. 8), eröffnet einen Weg, sie als Teilverwirklichungen der Kirche Christi anzuerkennen. Die Folgen dieser Irrtümer sind unabsehbar und noch in voller Entwicklung.

Amoris lætitia ist das unvermeidliche Ergebnis der neuen Ekklesiologie, die von Lumen gentium gelehrt wird, und ebenso der verrückten Öffnung zur Welt hin, die von der Pastoralkonstitution über die Kirche in der heutigen Welt, Gaudium et spes, gepriesen wird.2  Und tatsächlich gleicht die christliche Ehe mit Amoris lætitia mehr und mehr der Ehe, wie die Moderne sie auffasst und profaniert.

Somit ist die objektiv verwirrende Lehre von Papst Franziskus kein seltsamer Auswuchs, son­dern die logische Konsequenz aus den im Konzil festgelegten Grundsätzen. Er zieht aus ihnen die – jedenfalls für den Augenblick – endgültigen Schlussfolgerungen.

Hat sich diese neue Lehre über die Kirche in einem besonderen theologischen Konzept niedergeschlagen?

Nach dem Konzil ersetzte der Begriff des Volkes Gottes den des geheimnisvollen Leibes Christi. Er ist allgegenwärtig in dem 1983 veröffentlichten neuen Kodex des kanonischen Rechts. Aber 1985 kam es zu einer Neuorientierung. Es schien, dass der Begriff „Volk Gottes“ unhandlich wurde, weil er ein Abdriften in Richtung der Befreiungstheologie und des Marxismus erlaubte. Er wurde durch einen anderen Begriff ersetzt, der ebenfalls aus dem Konzil übernommen wurde: die Ekklesiologie der Communio, die eine äußerst elastische Zugehörigkeit zur Kirche ermöglicht; mit ihr sind alle Christen in derselben Kirche Christi vereint, aber mehr oder weniger, was bewirkt, dass der ökumenische Dialog, wie bei der Versammlung von Assisi 1986, zu einem Babel geworden ist, vergleichbar mit dem Polyeder, das Papst Franziskus so lieb ist: „eine geometrische Figur, die viele verschiedene Facetten hat. Das Polyeder spiegelt den Zusammenfluss aller Unterschiede wider, die in ihm ihre Originalität bewahren. Nichts löst sich auf, nichts wird zerstört, nichts beherrscht etwas.“ 3

Sehen Sie dieselbe ekklesiologische Wurzel am Ursprung der im Instrumentum laboris der bevorstehenden Amazonas-Synode ankündigenden Reformen, oder im Reformprojekt der Römischen Kurie?

Alles geht direkt oder indirekt auf einen falschen Kirchenbegriff zurück. Nochmals, Papst Franziskus zieht nur die letzten Schlussfolgerungen aus den vom Konzil festgelegten Prämissen. Konkret setzen seine Reformen immer eine zuhörende Kirche voraus, eine synodale Kirche, eine Kirche, die auf die Kultur der Völker, ihre Erwartungen und Forderungen, insbesondere auf die menschlichen und natürlichen Bedingungen eingeht, die für unsere Zeit typisch sind und sich ständig ändern. Der Glaube, die Liturgie, die Leitung der Kirche, muss sich an all dies anpassen und das Ergebnis davon sein.

Die synodale Kirche, die immer eine hörende sein muss, ist die neueste Entwicklung der vom Zweiten Vatikanischen Konzil geförderten kollegialen Kirche. Um ein konkretes Beispiel zu nennen, muss die Kirche gemäß dem Instrumentum laboris fähig sein, Elemente wie lokale Traditionen der Geisterverehrung und die traditionelle amazonische Medizin, die zu so genannten „Exorzismen“ aufruft, zu übernehmen und sich zu eigen zu machen. Da diese indigenen Traditionen in einem geschichtsträchtigen Boden verwurzelt sind, folgt daraus, dass dieses „Gebiet ein theologischer Ort ist, eine besondere Quelle der Offenbarung Gottes“. Deshalb müssen wir den Reichtum dieser indigenen Kulturen anerkennen, denn „die unehrliche Offenheit gegenüber dem anderen, sowie eine korporatistische Haltung, die das Heil nur dem eige­nen Glauben vorbehält, zerstört diesen Glauben“. Es scheint, dass die gegenwärtige Hierarchie, anstatt das Heidentum zu bekämpfen, es übernehmen und sich seine Werte aneignen will. Und die Macher der bevorstehenden Synode verweisen auf diese „Zeichen der Zeit“, die Johannes XXIII. teuer waren und die wie Zeichen des Heiligen Geistes erforscht werden müssen.

Und was ist mit der Kurie?

Das Reformprojekt der Kurie seinerseits befürwortet eine Kirche, die viel mehr einem menschlichen Unternehmen gleicht als einer göttlichen, hierarchischen Gesellschaft, die Verwahrerin der übernatürlichen Offenbarung ist, ausgestattet mit dem unfehlbaren Charisma, der Menschheit die ewige Wahrheit bis zum Ende der Zeiten zu bewahren und zu lehren. Wie es im Text des Entwurfs ausdrücklich heißt, geht es darum, die „Aktualisierung (aggiornamento) der Kurie“ ins Werk zu setzen „auf der Grundlage der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanums“. Es ist daher nicht verwunderlich, aus der Feder der für diese Reform zuständigen Kardinäle zu lesen: «Die Kurie fungiert als eine Art Plattform und Forum für die Kommunikation mit den Teilkirchen und Bischofskonferenzen, die solcher Erfahrungen bedürfen. Die Kurie sammelt die Erfahrungen der Weltkirche und, von ihnen ausgehend, ermutigt die Teilkirchen und die Bischofskonferenzen… Dieses der Kirche gegebene Leben der Communio hat das Gesicht der Synodalität… Das Volk der Gläubigen, das Bischofskollegium, der Bischof von Rom hören aufeinander, und sie alle hören auf den Heiligen Geist… Diese Reform wird im Geist der „gesunden Dezentralisierung“ durchgeführt… Die synodale Kirche besteht darin, dass „das Volk Gottes zusammen auf dem Weg ist“… Dieser Dienst der Kurie an der Sendung der Bischöfe und an der Communio basiert nicht auf einer Haltung der Wachsamkeit oder Kontrolle, und auch nicht auf Entscheidungen, die sie als höhere Autorität fällen würde…» 4

Plattform, Forum, Synodalität, Dezentralisierung…, all dies bestätigt nur die ekklesiologische Wurzel aller modernen Irrtümer. In diesem formlosen Magma gibt es keine höhere Autorität mehr. Es ist die Auflösung der Kirche, wie unser Herr sie eingesetzt hat. Mit der Gründung seiner Kirche hat Christus kein Kommunikationsforum und keine Plattform für den Austausch eröffnet; er hat Petrus und seine Apostel mit der Aufgabe betraut, seine Herde zu weiden, sowie Säulen der Wahrheit und Heiligkeit zu sein, um die Seelen in den Himmel zu führen.

Wie lässt sich dieser ekklesiologische Irrtum in Bezug auf die göttliche Verfassung der von Jesus Christus gegründeten Kirche charakterisieren?
Das ist eine weitläufige Frage, aber Erzbischof Lefebvre bietet uns den Baustein für eine Antwort. Er sagte, dass die Struktur der neuen Messe einer demokratischen Kirche entspricht, die nicht mehr hierarchisch und monarchisch ist. Die synodale Kirche, von der Franziskus träumt, ist wirklich demokratisch. Er selbst hat das Bild gegeben, das er von ihr hat: das einer umgekehrten Pyramide. Könnte man noch deutlicher ausdrücken, was er mit Synodalität meint? Es ist eine Kirche, die auf dem Kopf steht. Aber ich betone nochmals: Er entwickelt lediglich die Keime, die bereits im Konzil enthalten sind.

Denken Sie nicht, dass Ihre Lesart der gegenwärtigen Wirklichkeit erzwungen ist, wenn Sie alles auf die Prinzipien des Zweiten Vatikanischen Konzils zurückführen wollen, das vor mehr als fünfzig Jahren abgehalten wurde?

Es ist einer von Franziskus‘ engsten Mitarbeitern, der uns die Antwort gibt: Kardinal Maradiaga, Erzbischof von Tegucigalpa und Koordinator des C6. Er sagt: «Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ändern sich die Methoden und Inhalte der Evangelisierung, sowie der christli­chen Bildung. Die Liturgie verändert sich. (…) Die missionarische Perspektive ändert sich: Der Missionar muss einen evangelisierenden Dialog einrichten (…). Die Sozialarbeit verändert sich, es ist nicht mehr nur die Liebe und die Entwicklung der Dienste, sondern auch der Kampf um Gerechtigkeit, Menschenrechte und Befreiung… Alles verändert sich in der Kirche gemäß dem erneuerten pastoralen Modell.» Und er fügt hinzu, um zu zeigen, in welchem Geist diese Veränderungen vollzogen werden: «Der Papst will die Erneuerung der Kirche zu einem Punkt bringen, an dem sie unumkehrbar wird. Der Wind, der die Segel der Kirche auf die hohe See ihrer tiefen und vollständigen Erneuerung bläst, ist die Barmherzigkeit.»5

Es kann jedoch nicht geleugnet werden, dass viele Stimmen gegen diese Reformen erhoben wurden, und es ist anzunehmen, dass sich dies in den kommenden Monaten fortsetzen wird. Wie bewerten Sie diese Reaktionen?

Man kann sich nur freuen über solche Reaktionen und über ein zunehmendes Bewusstsein bei vielen Gläubigen und einigen Prälaten darüber, dass sich die Kirche einer neuen Katastrophe nähert. Diese Reaktionen haben den Nutzen und das Verdienst zu zeigen, dass die Stimme, die diese Irrtümer vertritt, weder die Stimme Christi noch die des Lehramtes der Kirche sein kann. Das ist äußerst wichtig und trotz des tragischen Zusammenhangs ermutigend. Die Bruderschaft hat die Pflicht, auf diese Reaktionen sehr aufmerksam zu sein, und gleichzeitig muss sie versuchen zu vermeiden, dass diese Reaktionen fehlschlagen und ins Leere laufen.

Was wollen Sie damit sagen?

Zunächst ist anzumerken, dass diese Reaktionen systematisch an einer „Gummiwand“ abprallen, und man muss den Mut aufbringen, zu fragen, weshalb. Um ein Beispiel zu nennen: Vier Kardinäle hatten ihre Dubia über Amoris lætitia vorgebracht. Diese Reaktion hatte bei vielen Aufmerksamkeit erregt und wurde als Beginn einer Reaktion gefeiert, die zu dauerhaften Ergebnissen führen würde. Tatsächlich aber hat das Schweigen des Vatikans diese Kritik unbeantwortet gelassen. In der Zwischenzeit sind zwei dieser Kardinäle gestorben, und Papst Franziskus ist zu den anderen Reformprojekten übergegangen, die wir gerade erwähnt haben, – was bedeutet, dass sich die Aufmerksamkeit auf neue Themen verlagert und der Kampf um Amoris lætitia zwangsläufig im Hintergrund bleibt, vergessen wird; und der Inhalt dieses apostolischen Schreibens scheint de facto akzeptiert.

Um dieses Schweigen des Papstes zu verstehen, dürfen wir nicht vergessen, dass die aus dem Konzil hervorgegangene Kirche pluralistisch ist. Es ist eine Kirche, die nicht mehr auf einer ewigen und offenbarten Wahrheit basiert, die von oben durch die Autorität gelehrt wird. Wir haben eine Kirche vor uns, die zuhört und deshalb zwangsläufig auf Stimmen hört, die sich voneinander unterscheiden können. Um einen Vergleich zu ziehen: Es gibt in einem demokratischen System immer einen Platz für die Opposition, wenigstens dem Anschein nach. Sie ist Teil des Systems, weil sie zeigt, dass wir diskutieren, eine andere Meinung haben können, dass es Platz gibt für alle. Dies kann selbstverständlich den demokratischen Dialog fördern, aber nicht die Wiederherstellung einer absoluten und universellen Wahrheit und eines ewigen moralischen Gesetzes. Auf diese Weise kann der Irrtum frei gelehrt werden neben einer echten, aber strukturell wirkungslosen Opposition, die unfähig ist, die Wahrheiten an ihre Stelle zu setzen. Wir müssen also aus dem pluralistischen System selbst austreten, und dieses System hat eine Ursache, das Zweite Vatikanische Konzil.

Was sollten Ihrer Meinung nach diesen Prälaten oder diese Gläubigen tun, denen die Zukunft der Kirche am Herzen liegt?

Zunächst einmal sollten sie die Klarheit und den Mut aufbringen, anzuerkennen, dass es eine Kontinuität gibt zwischen den Lehren des Konzils, der Päpste der nachkonziliaren Ära und dem gegenwärtigen Pontifikat. Das Lehramt des „heiligen“ Johannes Paul II. etwa gegen die Neuerungen von Papst Franziskus anzuführen, ist ein sehr schlechtes Mittel, das von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Ein guter Arzt kann sich nicht damit begnügen, eine Wunde mit ein paar Stichen zu schließen, ohne vorher die Infektion innerhalb der Wunde zu beseitigen. Wir sind weit davon entfernt, diese Bemühungen zu verachten, aber gleichzeitig ist es eine Frage der Nächstenliebe, aufzuzeigen, wo die Wurzel der Probleme liegt.

Um ein konkretes Beispiel für diesen Widerspruch zu geben genügt es, einen Namen unter vielen zu nennen, den von Kardinal Müller. Er ist heute zweifellos der virulenteste gegen Amoris lætitia, das Instrumentum laboris, das Reformprojekt der Kurie. Er verwendet sehr starke Ausdrücke und spricht sogar vom „Bruch mit der Tradition“. Und doch ist dieser Kardinal, der nunmehr die Kraft findet, diese Irrtümer öffentlich anzuprangern, derselbe, der der Priesterbruderschaft St. Pius X. – in Kontinuität mit seinen Vorgängern und Nachfolgern an der Glaubenskongregation – die Annahme des ganzen Konzils und des nachkonziliaren Lehramtes aufzwingen wollte. Unabhängig von der Bruderschaft und ihren Positionen stellt diese Kritik, die sich nur auf die Symptome konzentriert, ohne auf ihre Ursache zurückzugehen, eine höchst schädliche und verwirrende Unlogik dar.

Es wird oft bemängelt, dass die Bruderschaft nur kritisieren kann. Was schlägt sie positiv vor? 

Die Bruderschaft kritisiert weder systematisch noch a priori. Sie ist keine berufsmäßige „Nörglerin“. Sie hat eine Freiheit im Ton, die es ihr erlaubt, offen zu sprechen, ohne Angst zu haben, Vorteile zu verlieren, die sie nicht hat… Diese Freiheit ist unter den gegebenen Umständen unerlässlich.
Die Bruderschaft hat vor allem die Liebe zur Kirche und zu den Seelen. Die gegenwärtige Krise ist nicht nur lehrmäßig: Die Seminare schließen, die Kirchen leeren sich, die sakramentale Praxis zerfällt in schwindelerregender Weise. Wir können nicht nur Zuschauer sein, die die Arme verschränken und zu sich selbst sagen: „All das beweist, dass die Tradition Recht hat.“ Die Tradition hat die Pflicht, den Seelen zu Hilfe zu kommen mit den Mitteln, die ihr die heilige Vorsehung zur Verfügung stellt. Wir werden nicht vom Stolz getrieben, sondern von der Nächstenliebe gedrängt, „das weiterzugeben, was wir empfangen haben“ (1 Kor 15,3). Das ist es, was wir durch unsere tägliche apostolische Arbeit demütig anstreben. Diese aber ist untrennbar verbunden mit der Verurteilung der Übel, unter denen die Kirche leidet, um so die von schlechten Hirten verlassene und zerstreute Herde zu schützen.

Was erwartet die Bruderschaft von den Prälaten und Gläubigen, die anfangen, klar zu sehen, damit ihre Stellungnahmen zu positiven und wirksamen Ergebnissen führen?

Sie müssen den Mut haben zu erkennen, dass selbst eine gute lehrmäßige Stellungnahme nicht ausreichen kann, wenn sie nicht von einem seelsorglichen, geistlichen und liturgischen Leben begleitet wird, das den zu verteidigenden Grundsätzen entspricht, denn das Konzil hat eine neue Art der Konzeption des christlichen Lebens eingeführt, das mit einer neuen Lehre im Einklang steht.

Wenn die Lehre mit all ihren Rechten bekräftigt wird, muss man übergehen zu einem wirklich katholischen Leben in Übereinstimmung mit dem, was man bekennt. Andernfalls wird diese oder jene Erklärung nur ein Medienereignis bleiben, das auf einige Monate, ja sogar auf einige Wochen begrenzt ist… Konkret heißt das, sie müssen zur tridentinischen Messe übergehen und zu allem, was das bedeutet; sie müssen zur katholischen Messe übergehen und alle Konsequenzen daraus ziehen; sie müssen zur nicht-ökumenischen Messe, zur Messe aller Zeiten übergehen und diese Messe das Leben der Gläubigen, der Gemeinschaften, der Seminare erneuern und vor allem die Priester umgestalten lassen. Es geht nicht darum, die tridentinische Messe wiederherzustellen, weil sie die beste theoretische Option ist; es geht darum, sie wiederherzustellen, sie zu leben und sie bis zum Martyrium zu verteidigen, weil allein das Kreuz unseres Herrn die Kirche aus der katastrophalen Lage herausführen kann, in der sie sich befindet.

Portæ inferi non prævalebunt adversus eam!
Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen!

Pater Davide Pagliarani, Generaloberer
Menzingen, den 12. September 2019, am Fest Mariä Namen

  1. September, 2019

Quelle: fsspx.news – https://fsspx.de/de/eine-kirche-die-auf-dema-kopf-steht-50640

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Ein dramatischer Brief – Die Piusbruderschaft vor ihrem Generalkapitel

Die Piusbruderschaft veröffentlichte am 13. Juni 2018, am Festtag des heiligen Antonius, den man auch den „Hammer der Häretiker“ bezeichnet, einen dramatischen Brief Pater Yves le Roux, des Regens des Priesterseminars St. Thomas Aquinas, USA. Der Brief ist zunächst an die eigenen Mitglieder gerichtet, aber auch allen, die der Piusbruderschaft anhangen, wie jenen, die sie bekämpfen, ins Stammbuch geschrieben. Die weltweite Gemeinschaft FSSPX (SSPX) steht am Vorabend ihres Generalkapitels, bei dem wichtige Entscheidungen getroffen werden, nicht zuletzt jene der Wahl eines neuen Generaloberen.

Nach der Überschrift „Ein Wendepunkt“ heißt es weiter:

Die Erinnerung an unseren menschlichen Zustand ist unbedingt notwendig, da es den Menschen seit der Erbsünde ständig zur Maßlosigkeit hinzieht. Wenngleich die unendliche Natur Gottes ihm ein unermessliches Sein ermöglicht, kann der Mensch, ein endliches Geschöpf, das Maß nicht überschreiten, ohne von seiner eigenen Natur abzuweichen.

Diese Abweichung kann man besonders in Krisenzeiten bemerken, wenn Orientierungspunkte verschwimmen und Grundfesten wanken. Blind und orientierungslos durch den Wirbel des ihn umgebenden Irrtums wird der Mensch nach und nach dazu gebracht, dass sein Urteil und Handeln nur noch auf diese Krise reagiert. Da jedoch die Krise nur die Verneinung und Zerstörung der Ordnung ist, kann sie keine Basis für eine richtige Beurteilung und Handlung darstellen. Zuerst muss zur Ordnung zurückgekehrt werden. Diese Rückkehr wird noch pressanter, wenn die Krise nicht nur das einzelne Individuum zerbricht, sondern die eigentlichen Grundfesten einer Gesellschaft in Frage stellt.

Die Kirchengeschichte zeigt, dass alle religiösen Orden aus der Krise geboren wurden. Die Krise kann aber nicht das Wesen des geweihten Lebens ausmachen: Sie ist lediglich der Anlass der Vorsehung für sein Erblühen. Das Wesen eines Ordens ist natürlich von ganz anderer Natur. Denn, wie der Orden des heiligen Dominik sich nicht nur über seinen Kampf gegen die Häresie der Kartharer definieren lässt, kann auch die Priesterbruderschaft St. Pius X. nicht auf ihren notwendigen Kampf gegen die Irrtümer dieser Zeit reduziert werden. Wenn die Krise unglücklicherweise der einzige Grund für die Existenz der Priesterbruderschaft St. Pius X. wäre, würde sie binnen kurzem verschwinden, ohne durch die Heiligkeit der Priester für die Errichtung des Königreichs Christi gearbeitet zu haben. Dies ist wahrhaftig das Wesen der Existenz dieser Priesterbruderschaft: die Selbstaufopferung ihrer Priester zur Ehre Gottes, des Vaters, auf dem Altar der heiligen Messe. Regnavit al ligno Deus, „Gott herrscht vom Holze herab“ wie das Vexilla Regisbekräftigt.

Je mehr sich die Krise der Kirche verschärft, je mehr ihre lehrmäßigen Grundlagen erschüttert werden, je mehr Satan sich bemüht, die Menschen durch ehemals unvorstellbare Brüche in der Kirche zu desorientieren, um so mehr muss die Priesterbruderschaft St. Pius X. ihrer Berufung treu bleiben, die sie von ihrem Gründer, Msgr. Lefebvre erhalten hat: die Heiligkeit des Priesters, dem Mann der Messe, und damit Golgatha zu behüten. Es wäre ein schwerwiegender und katastrophaler Irrtum, zu behaupten, dass die Urteile und Handlungen der Priesterbruderschaft St. Pius X., da sie ja selbst in der progressiven Krise entstanden ist, sich nach den Entwicklungen dieser Krise zu richten hätte.

Nach der Panikwelle zu urteilen, die manche unter uns während der letzten Monate ergriffen hat, scheinen einige von uns am Vorabend des bevorstehenden Wahlkapitels unserer Ordensgemeinschaft unser Verständnis von Vernunft und Gleichgewicht verloren zu haben. Jeder lässt seine Meinung verlauten, pocht darauf, was getan werden „muss“, prognostiziert, kritisiert alles und bricht in lautes Geschrei aus. Wäre es nicht an der Zeit, wieder ein wenig zum gesunden Verstand zurückzukehren?

Solche Extreme tragen das satanische Zeichen des egalitären Revolutionsgeistes, durch den sich ein jeder als souveräne Autorität hinstellt. Diese Autoritätskrise ist in Wirklichkeit nichts anderes als die vehemente Ablehnung jeglicher Vaterschaft, und insbesondere der göttlichen Vaterschaft. Es ist auch die Leugnung der Natur des Menschen: als abhängiges Wesen, das Gott unterworfen ist.

Es ist wichtig, dass wir uns von diesem Missverhältnis nicht mitreißen lassen und in diesem Sturm auf unserem Kurs zu bleiben. Es genügt, sich der Realität zu stellen: In einer Zeit, in der die Kirche und die Welt eine tiefe und anhaltende Krise durchlaufen, ist unsere junge Ordensgemeinschaft noch keine fünfzig Jahre alt. Für einen Orden ist dies das Jugendalter; ein besonders anfälliges Alter, in dem Wachstum auf unausgewogene und unordentlich wirkende Weise stattfinden kann. Über gewisse Disharmonien müssen wir uns daher nicht wundern; wir sollten vielmehr danach streben, diese zu beheben. Und es gibt dafür kein anderes Mittel, als den Geist wiederzubeleben, der bei der Gründung des Werkes den Vorsitz führte.

Wenn die gegenwärtige Krise droht, uns in ihrem Wirbel zu verschlingen, ist es in der Tat notwendig, diese in geordneter Weise zu bekämpfen, indem man auf die Grundsätze zurückgreift und insbesondere die oberste Regel der Paternität anerkennt, die der Grundpfeiler jeder Gesellschaft ist. Durch das Leben als Söhne, die in der göttlichen Vaterschaft verwurzelt sind, werden wir alle – Priester und Gläubige, jeder an seinem Platz – für die Treue der Priesterbruderschaft St. Pius X. zu ihrer Berufung arbeiten.

Beten wir für die Priester, dass sie an ihrem Platz bleiben mögen, im Gehorsam leben, ohne sich Zuständigkeiten anzumaßen, die sie nicht besitzen, insbesondere Pauschalurteile über alles zu fällen. Beten wir, dass sie vielmehr ein intensives priesterliches Leben entfalten, das Treue zu ihrem Gebetsleben, Entsagung und Einsatz für die Seelen umfasst.

Hoffen wir, dass die Gläubigen ihrerseits ihr Gebetsleben verstärken und dass sie es nicht versäumen, täglich für unser bevorstehendes Kapitel zu beten. Hoffen wir, dass sie auf die Botschaft Unserer Lieben Frau von Fatima in Bezug auf die notwendige Buße durch Treue zur Standespflicht hören. Beten wir, dass auch in ihnen ein Geist der Aufopferung ihren Priestern und Gemeinden gegenüber entsteht.

Ein Wahlkapitel in einer Ordensgemeinschaft ist ein wichtiger Moment. Hier wettet man nicht wie beim Pferderennen. Dieses Ereignis ist ein feierlicher Anlass für eine Ordensgemeinschaft, denn es ist ein besonderer Gnadenmoment, bei dem die Treue zu den Statuten erneuert werden muss. Es ermöglicht eine in Abhängigkeit von der Hierarchie größere Einheit der Mitglieder und eine Reorganisation in Vorbereitung auf neue Kämpfe.

Beten wir um die Gnade, das Missverhältnis, von dem wir gesprochen haben, zu verhüten, Verstöße und Beleidigungen zu vermeiden, vorschnelles Urteil über Absichten sowie Parteiungen zu vermeiden. Beten wir ganz einfach um die Gnade, unserer Regel treu zu bleiben.

Es geht um unseren entschlossenen Einsatz, damit das soziale Königtum Christi durch die Priesterherrschaft Christi errichtet wird.

Ihrem ständigen Wohlwollen, und besonders Ihrem Gebet, vertrauen wir unsere Priesterbruderschaft an, die wir aus kindlichem Herzen lieben, damit sie sich ganz dem Dienst des Königtums Christi in der Kirche, in der Welt und in den Familien widmen kann, und dass sie beschützt werde von ihrem Gründer, unserem Vater im Glauben, unserem verehrten Msgr. Lefebvre.

In Christo Sacerdote et Maria,
P. Yves le Roux, Regens,
Priesterseminar St. Thomas Aquinas, am Fest des Heiligsten Herzen Jesu, 7. Juni 2018.

Siehe fsspx.de

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