Heller und heller

So stehe ich vor dir: elend und blind. Zwar kann dein Trost mich zuweilen aufheitern, doch ich weiß, was für ein Mensch ich war.
Nur wer ich jetzt bin, weiß ich noch nicht. Um eines nur bitte ich Gott, das ist mein Herzenswunsch (Ps26,4):
Je verzweifelter ich mich in meiner Not nach dir sehne, um so heller und heller möge dein barmherziges Antlitz über mir leuchten, (Ps 30,17) bis all meine Not und Finsternis ganz verschwunden sind.

Wilhelm von St. Thierry, 8. Meditation, 14

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Damit ich erkenne

Herr, Gott, du Richter über Lebende und Tote, sind dies die beiden Herden, die zu deiner Rechten und die zu deiner Linken (Mt 25,31-32), auf die am Tage deines Gerichtes entweder das Los des Lebens oder das des Todes, das des Zorns oder das der Gnade fällt?
Und in welcher Herde werde ich stehen?

O Gott, du wahrer, wirklicher Gott, ich bitte dich bei deiner Herrlichkeit und deiner Majestät, wende dich nicht von mir ab!
Entzünde in mir alle Funken zu hellem Feuer, damit ich in seinem Licht das Licht sehen kann, damit ich erkenne, wie ich zu dir und du zu mir paßt, und damit Gott so wirklich in mir ist, Jesus, wie er in dir ist, und ich den alten Adam und die alte Lebensweise mit der Sehnsucht nach dem falschen Ziel endlich ablegen kann. (Eph4,22)
Daß ich dich suche, du wahrer, wirklicher Gott, weiß ich wohl, aber ob mein Suchen wirklich echt ist, das weiß ich nicht.

Wilhelm von St. Thierry, 8. Meditation, 13

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Wer Entsetzliches getan hat …

Manchmal frage ich mich, ob solche Menschen, wenn sie so in der Hölle schmachten, überhaupt eine Ahnung davon haben können, wie schön es ist, dich kennenzulernen.
Aber wenn sie es irgendwie ahnen können, dann gibt es, so glaube ich, in der Hölle keine größere Qual, als dich nicht sehen zu dürfen.
Aber wehe, wehe ihnen! Wer Entsetzliches getan hat, wird noch viel Entsetzlicheres erleiden.
Denen, die keine Reue kennen, wird dein Blut, Christus, nicht helfen.
Vielmehr werden sie im Gericht schuldig gesprochen, weil sie für deinen blutigen Tod verantwortlich sind. (Auslegung von 1 Kor 11,27 ).
Indem sie sündigten und keine Reue zeigten, haben sie Christus mit Füßen getreten. (Vgl. Hebr 10,29)

So schrecklich ist dein Zorn für die Menschen, die er trifft und vor dem bereits der Prophet voller Angst und Schrecken warnt.
Und der Apostel schreibt:
„Dann können wir nur noch ein schreckliches Gericht erwarten, ein Feuer, das gierig alle Gegner verschlingt.“ (Hebr 10,27 )

Wilhelm von St. Thierry, 8. Meditation, 12

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Sünden und Fesseln

Weil sie bewiesen haben, daß sie von Gott nichts wissen wollen, hast du sie, Herr, ihrer törichten Haltlosigkeit preisgegeben (Röm 1,28), so daß sie nun alles mögliche tun, das sich nicht gehört.
Ihre Verfehlungen sind so schändlich, daß man sie in deiner Gegenwart nicht einmal erwähnen mag, doch sie begehen sie kaltblütig und rücksichtslos vor deinen Augen.
Aus ihrer Maßlosigkeit und deren Folgen, aus ihren Missetaten und deren unmittelbaren und mittelbaren Folgen schmieden sie sich eine trostlose, harte, lange Sündenkette, deren eiserne Glieder zwar manchmal lustig klingeln, sie aber dauerhaft fesseln und sie in die Hölle hinabziehen, wo keiner dich lobpreist, Herr, (Ps 6,6) wo keine Hoffnung blüht und jeder Rückweg versperrt ist.

Wilhelm von St. Thierry, 8. Meditation, 11

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Erbarme dich, Herr!

Wie könnte jemand dich nicht suchen?
Wie könnte jemand nicht auf der Suche nach dir Beschwernisse in Kauf nehmen, Strapazen, Erschöpfung, Tod?
Erbarme dich, Herr!
Auf der Suche nach dir wäre ich schon längst irgendeines schrecklichen Todes gestorben, wärst du nicht bei mir gewesen, um mein Leben zu beschützen.*
Ganz anders aber ergeht es deinem Feind: Wenn du dich ihm zeigst, sieht er in einen glühenden Feuerofen.
Der Sünder bekommt den Kelch, der ihm zusteht: Er erlebt Lug und Trug, Feuersbrünste, Schwefelgestank und tosende Stürme.
Der Hochmütige beißt bei dir auf Granit. (Vgl. 1 Petr 5,5)
Den Lügner blendet das ihm verhaßte Licht der Wahrheit.
Jedem einzelnen wird seine ganz spezielle Verfehlung ins Gewissen gebrannt, weil sie eins gemeinsam haben: Sie kennen keine Reue.
In dir finden sie ihren strengen, gerechten Richter, denn du haft die Ungerechtheit derer, die die Gerechtheit hassen.

(* Vgl. Hiob 10,12: „Leben und Huld hast du mir geschenkt, und deine Fürsorge hat meinen Odem bewacht.“)

Wilhelm von St. Thierry, 8. Meditation, 10

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Ich suche dich

So ist es, Herr, wenn du dich dem zuwendest, der sich nach dir sehnt. So ist es, wenn dein Kuß den Mund dessen berührt, der dich liebt. So ist es, wenn du mit liebevoller Umarmung die Umarmung deiner Braut erwiderst, die voll Sehnsucht sagt:
„Er ist mir lieb, und ich bin ihm lieb. Er ruht an meiner Brust.“ (Cant 2,16, vgl. 1,12)
Und weiter: „Mein Herz hat zu dir gesagt: Ich suche dich.“ (Ps 26,8).
Denn wer dich nicht sucht, ist kein richtiger Mensch, sondern nur ein Tier in Menschengestalt. (*)

(* Die Grundlage des Arguments an dieser Stelle: Der Mensch unterscheidet sich dadurch von den Tieren, daß er nach Gen 1,26-27 nach Gottes Bild ist. Wenn er sein Urbild nicht sucht, degeneriert er zum Tier.)

Wilhelm von St. Thierry, 8. Meditation, 9.

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Bein von deinem Gebein

Du sagst dem von Sehnsucht Ergriffenen:
„Mach deinen Mund auf, ich werde ihn füllen.“ (Ps 80,11)
Dann wird er schmecken und sehen, wie freundlich du bist (Vgl. Ps 80,11), und durch das große und unfaßbare Sakrament selbst zu dem werden, was er ißt:
„Bein von deinem Gebein und Fleisch von deinem Fleisch.“ (Gen 2,23).
So soll das wahr werden, worum du den Vater auf deinem Gang zur Kreuzigung gebeten hast:
Durch Gnade soll der Heilige Geist in uns das bewirken, was er im Vater und in dir, seinem Sohn, seit jeher von Natur aus ist, daß wir nämlich so, wie ihr ganz eins seid, in der Verbindung mit euch ganz eins miteinander sind. (Joh 17,21)

Wilhelm von St. Thierry, 8. Meditation, 8.

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Bruderkuss

Wenn zwei sich zärtlich küssen, hauchen sie sich gegenseitig ihren Lebensgeist ein (*), so daß der eine vom Hauch des anderen ganz erfüllt wird.
Nimm meinen Lebenshauch an, Herr, weise ihn nicht zurück. Ich hauche ihn tief in dich hinein, auch wenn er keinen Wohlgeruch hat.
Und du hauche deinen Lebensgeist mit seinem Wohlgeruch ganz in mich hinein, damit dein Lebenshauch dem meinen seinen Wohlgeruch mitteilt.
Und dieser reine Wohlgeruch soll künftig immer in mir bleiben.
Genau dies geschieht, wenn wir das tun, was wir nach deinem Auftrag zu deinem Gedächtnis tun sollen. (1 Kor 11,25; Lk 22,19).
Nichts Schöneres, nichts Heilvolleres hättest du deinen Kindern hinterlassen können, als daß wir jedesmal, wenn wir den Leib essen und das Blut trinken, das unvergängliche Mahl, wie es uns die reinen, wiederkäuenden Tiere vormachen (**), gewissermaßen aus dem Magen der Erinnerung sorgsam wieder in den Mund zurückholen, damit jeweils neu und für immer unser Heil gewirkt wird und wir stets aufs neue ergriffen wiederkäuen, was du für uns getan und gelitten hast, und dann wieder in der Erinnerung verwahren.

(* Hier liegt – trotz des Abstands von Jahrhunderten – u.a. der Schlüssel zum Verständnis des heiligen Kusses im frühen Christentum und des quasi-sakramentalen liturgischen Bruderkusses. Der heilige Kuß ist Mitteilung des Heiligen Geistes, denn dieser lebt nicht als feste Konserve, sondern immer in der Bewegung gegenseitiger Mitteilung.)
(** Lev 11,3 („Alles, was unter den Vierfüßlern gespaltene Klauen hat, und zwar völlig durchgespaltene Klauen, und wiederkäut, das dürft ihr essen.“); Gen 7,2)

Wilhelm von St. Thierry, 8. Meditation, 7.

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Nicht aufgeben oder murren

Alle, die du in deine Arme schließt, Herr, ziehst du doch fest an dein Herz.
Dein Herz ist das süße Manna, Gott, den du, Jesus, in deiner Weisheit in dir trägst wie in einem goldenen Krug. (Hebr 9,4).
Selig sind alle, die deine Umarmung zu diesem Manna zieht, selig alle, die du in diesem verborgenen Geheimnis mitten in deinem Herzen geborgen sein läßt. (Ps 30,21).
So bleiben sie unter deinen Flügeln vor allzu menschlichen Verwirrungen bewahrt.
Nur unter dem Schutz und Schirm deiner Flügel (Ps 90,4) können sie hoffen, denn unter deinen starken Flügeln finden alle Schutz, die du in deinem Herzen geborgen hältst.
Sie können ruhig schlafen und sind voll froher Erwartung, denn zwei wichtige Dinge haben sie schon geerbt(*) ein gutes Gewissen und die Hoffnung auf den verheißenen Lohn.
Es liegt ihnen fern, kleinmütig aufzugeben oder ungeduldig zu murren.

(* Wortlaut an der lat. Fassung von Ps 67,14 orientiert.)

Wilhelm von St. Thierry, 8. Meditation, 6.

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Nicht aus der Umarmung Jesu fallen

Meine Hände, Herr, haben getan, was sie nicht durften, und deine Hände wurden statt meiner, deine Füße statt meiner mit Nägeln durchbohrt.
Ich habe angesehen und angehört, was ich nicht ansehen und anhören durfte, und deine Augen und deine Ohren wurden im Sterben blind und taub.
Deine Seite wurde mit der Lanze des Soldaten geöffnet, damit durch deine Wunde aus meinem unreinen Herzen alles herausfließt, was ein böses Geschwür darin über lange Jahre entzündet und zersetzt hat. (Ps 79,17 (vom Weinberg): „… die ihn verbrannten und zerstörten, sollen zugrunde gehen.“)
Du bist schließlich gestorben, damit ich leben kann, du wurdest begraben, damit ich auferstehen kann.
Dies ist dein zärtlicher Kuß für deine Braut, dies ist die liebevolle Umarmung für deine Liebste. Wehe denen, die diesen Kuß nicht bekommen haben. Wehe denen, die aus dieser Umarmung herausfallen.
Diesen Kuß empfing am Kreuz der Schächer, weil er seine Schuld eingestanden und Jesus bekannt hatte. (Lk 23,43)
Diesen Kuß empfing Petrus, als der Herr sich nach der Verleugnung nach ihm umsah und er hinausging und bitterlich weinte. (Lk 22,62)
Und in diesem Kuß wurden sehr viele von denen mit dir vereinigt, die dich erst kreuzigten, sich nach deinem Leiden aber zu dir bekehrten.
In dieser Umarmung jubelte Maria Magdalena, einst von sieben bösen Geistern besessen. (Lk 9,2)
Und aus dieser Umarmung fiel der böse Jünger, der Verrat verübte. (Mt 26,48)
Mit dieser Umarmung hast du die Zöllner und Sünder an dich gedrückt, mit denen du Mahl gehalten und Freundschaft geschlossen hast, auch Rahab, die bekehrte Dirne (Ps 86,4; Hebr 11,31), Babylon, als es dich anerkannte (Ps 86,4), viele Fremdlinge, Tyrus (Ps 86,4; Ez 27,12-27) und die schwarzen Äthiopier (Jer 13,23; Act 8,27-38, wohl auch Ps 86,4).

Wilhelm von St. Thierry, 8. Meditation, 5.

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