Die hl. Hildegard und die Engel – 17. September

Lebendiges Licht –
Die Engel als Wegweiser zum Sinn in der Schau Hildegards von Bingen

Dass auf der Säule der Menschheit des Erlösers besonders viele Frauengestalten zu sehen sind, ist kein Zufall. Hildegard ist eine Frau und sie lebt in einem Konvent mit Gott suchenden Frauen zusammen. Dass weibliche Spiritualität für sie ein wichtiges Thema ist, liegt nahe. Aber bei der Darstellung von himmlischen Kräften geht es ihr nicht um die Frage, wie viele Sitze die Frauen im Rat der Heiligen für sich beanspruchen. Sie zu stellen, läge ihr wohl auch deshalb fern, weil diese Fokussierung auf Zahlen, hinter der sich der Wunsch nach Machtausübung verbirgt, genau jene Fehlhaltung des Auf-sich-bezogen-Seins fördert, die in ihrem Konvent zum Streit geführt hatte.

Was Hildegard erreichen möchte, ist vielmehr, ihre Schwestern dazu zu motivieren, sich aufzurichten, um sich neu ausrichten zu können. Denn der stete Blick auf uns selbst macht uns klein. Er nimmt uns die Perspektive des Himmels und schrumpft unsere Entwicklungsmöglichkeiten auf ein allzu irdisches Mittelmaß zurück. Wenn wir uns aber, wie Richardis, Odilia, Clementia und all die anderen Nonnen in Hildegards neuem Kloster Rupertsberg an der Säule der Menschheit des Erlösers ausrichten, hat dies zwei entscheidende Vorteile.

Zum einen ist diese Säule sehr greifbar und überaus standfest. Mehr, als man von den wankelmütig gewordenen Schwestern auf der Baustelle behaupten konnte.

Zum Zweiten trifft das Bild von der Säule mitten in die Schwärze des Konfliktes. Denn mit ihm macht Hildegard klar: Bei diesem Bau geht es um die Kirche als Ganzes, darum, sich einzuordnen in den Leib Christi, der weit mehr ist als die jeweils sichtbare Kirche, die nur »die Spitze des Eisbergs« darstellt. Denn als Gesamt ist die Kirche ein mystisches Phänomen, eins, das über die Zeiten hinweg bis in die Ewigkeit hineinreicht, umfasst sie neben der sichtbaren doch auch die unsichtbare Kirche, jene, die vor uns gelebt und geglaubt haben und die nun Teil jener Engelchöre sind, aus denen uns hier in unseren irdischen Gegebenheiten Hilfe zukommt.

Und zum Dritten hat die Säule der Menschheit des Erlösers ein Haupt, Jesus Christus. Durch das Bild wird ganz klar, dass es beim Mitbauen, egal ob es dabei um den Geräteschuppen im Garten des neuen Klosters oder das Reich Gottes geht, darauf ankommt, Teil des Ganzen zu sein, zu wissen, der Bauplan liegt bereits vor, der Magister operis, der Leiter des großen Projektes hat das Gesamt im Blick. Diese Perspektive wirkt einordnend, entlastend und stiftet Gemeinschaft.

Die Engel-Kräfte, die Hildegard in ihrer Vision von der Säule der Menschheit des Erlösers schaut, zeigen, wie so oft in Hildegards Werken, in ihrer äußeren Erscheinung ihr Wesen. Die Demut beschreibt sie so: »Die erste Gestalt trug auf ihrem Haupt eine goldene Krone, die drei höher hervorragende Zacken hatte und in reichem Schmuck kostbarster Edelsteine von grüner und rötlicher Farbe und weißen Perlen funkelte. Auf ihrer Brust aber trug sie einen hell leuchtenden Spiegel, in dem in wunderbarer Klarheit das Bild des fleischgewordenen Gottessohnes erschien.«

Alles weiter lesen Sie in dem neuen Buch von Barbara Stühlmeyer:

Lebendiges Licht
Die Engel als Wegweiser zum Sinn in der Schau Hildegards von Bingen
Mit einem Vorwort von Karl Braun, Erzbischof em. von Bamberg
Verlagsbuchhandlung Sabat 2021
192 Seiten; 19,95 Euro
ISBN 978-3943506938

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Hildegard von Bingen ist viel radikaler

Hildegards Name wird im Zusammenhang mit der Naturheilkunde oft missbraucht. Das Vorurteil, sie sei lediglich eine Naturheilkundige, wirkt an den Hochschulen nach. Aber Hildegard ist sowohl als Theologin als auch Politikerin attraktiv. Es ist zwar einfacher, sich einen Edelstein um den Hals zu hängen, als ihre unbequemen Lehren zu beherzigen. Aber nur das führt zum wahren Glück. Der Mensch muss sich im Tiefsten ändern. Fastenkuren reichen nicht. Hildegard ist viel radikaler.

Schwester Maura Zátonyi OSB, Abtei St. Hildegard Eibingen ( in: TAGESPOST 9. Mai 2019)

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