Die Schauungen der seligen Anna Katharina Emmerick, nach Clemens Brentano.
Am 3. Oktober 2004 wurde die Ordensfrau und Mystikerin Anna Katharina Emmerich wegen ihrer heroischen Tugenden in das Verzeichnis der Seligen eingetragen. Sie wurde 1774 in Coesfeld im Münsterland geboren und starb 1824 in Dülmen. Die aus einer einfachen Bauernfamilie stammende Nonne trug die Stigmata. Sie erlitt jeden Freitag die Passion und sah in ihren Visionen viele Ereignisse der biblischen Geschichte.
Ihre Schauungen sind auf uns gekommen nur durch die literarische Komposition des berühmten Schriftstellers Clemens Brentano (1889-1842), der fünf Jahre (1819-1824) Zeuge ihrer besonderen Begnadung war.
Aus den Notizen am Bett der Kranken wurden 16.000 Seiten. Die Mitteilungen der Seligen hat Brentano bearbeitet und zu einem anerkannten Werk der religiösen Literatur gemacht. Aus den Notizen entstanden (mit umfangreichen Zusätzen aus anderen Werken) fünf Bände: „Die Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich“. Am weitesten verbreitet war der erste Band dieser Reihe: „Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi“, im 19. Jahrhundert mit größeren Auflagen als die Werke von Goethe und Schiller.
Die vatikanische Heiligsprechungskongregation erklärte 2004, die Seligsprechung betreffe lediglich die Heiligkeit der Mystikerin des Münsterlandes und gebe kein Urteil über den Wahrheitsgehalt der Bücher von Clemens Brentano ab. Dies ist so dem unaufgeregten Urteil des Katholiken überlassen.
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Aufrichtung des Kreuzes
Nach der Annagelung unseres Herrn zogen sie mit Stricken, die an Ringen hinten am Kreuz befestigt wurden, den oberen Teil des Kreuzes auf den erhöhten Standort und warfen dann diese Stricke über einen jenseits errichteten Querbalken oder Bock, und viele Schergen zogen vermittels dieser Stricke das Kreuz in die Höhe, andere steuerten mit Hakenstöcken an dem Stamm nach und richteten den Fuß in das Joch.
Dann schoben sie den Gipfel des Kreuzes etwas vorwärts, daß es in senkrechte Richtung kam und seine ganze Last mit einem erschütternden Stoß in die Grube niederfuhr. Das Kreuz erzitterte von dem Stoß, Jesus wehklagte laut, die ausgespannte Last des Leibes zog nieder, die Wunden wurden weiter, das Blut rann reichlicher, und die zerschundenen Gebeine stießen sich.
Nun rüttelten sie das Kreuz noch fest und schlugen fünf Keile umher in das Loch, einen vorn, einen zur Rechten, einen zur Linken und zwei an die hintere, etwas runde Seite des Kreuzes.
Es war ein erschreckender und zugleich rührender Eindruck, als unter Hohngeschrei der Schergen und Pharisäer und vieles entfernten Volkes, das ihn nun auch sehen konnte, das Kreuz emporschwankte und erschütternd niederstieß; aber auch fromme, wehklagende Stimmen erhoben sich zu ihm.
Die heiligsten Stimmen der Erde, die jammernde Stimme der Mutter und der Freundinnen und des Freundes und aller, die reinen Herzens waren, begrüßten das am Kreuz erhöhte, ewige, Fleisch gewordene Wort mit rührender Wehklage, und alle Hände der Liebenden streckten sich bang empor, als wollten sie helfen, da der Heiligste der Heiligen, der Bräutigam aller Seelen, lebendig an das Kreuz genagelt, in den Händen der tobenden Sünder emporschwankte.
Als aber das Kreuz mit lautem Hall aufrecht in die Sandgrube hineinsank, trat ein kurzes Schweigen ein; alles schien von einem neuen, nie dagewesenen Gefühl überrascht. Selbst die Hölle fühlte den Stoß des sinkenden Kreuzes mit Schrecken und bäumte sich nochmals in ihren Werkzeugen mit Hohn und Fluch gegen dasselbe; bei den Armen Seelen aber und in der Vorhölle war eine bang harrende Freude. Sie horchten auf jenen Stoß mit sehnsüchtiger Hoffnung, er tönte ihnen wie das Pochen des nahenden Siegers an den Toren der Erlösung.
Das heilige Kreuz stand zum ersten Mal inmitten der Erde aufgerichtet wie ein anderer Baum des Lebens im Paradies, und aus den erweiterten Wunden Jesu tropften vier heilige Ströme auf die Erde nieder, ihren Fluch zu sühnen und sie ihm, dem neuen Adam, zu einem Paradies zu befruchten.
Als unser Heiland an dem Kreuz aufgerichtet stand und das Hohngeschrei auf wenige Minuten durch ein schweigendes Staunen unterbrochen war, schallte der Ton vieler Trompeten und Posaunen vom Tempel herüber und kündete das begonnene Schlachten des Osterlammes, des Vorbildes, an, indem er das Hohn- und Wehgeschrei um das wahre geschlachtete Lamm Gottes mit ahnungsreicher Feierlichkeit unterbrach; und es ward manches harte Herz erschüttert und gedachte der Worte des Täufers:
«Siehe das Lamm Gottes, welches die Sünden der Welt auf sich genommen hat.»
Der Standort des Kreuzes war etwas über zwei Schuh hoch. Als der Kreuzfuß an der Grube stand, waren die Füße Jesu mannshoch, und als es hineingesunken fest stand, konnten die Freunde die Füße umarmen und küssen. Es war ein schräger Aufweg zu diesem Hügel. Das Angesicht Jesu sah nach Nordwesten.
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