Schweigen, um Gott zu hören

Die nachfolgenden Gedanken von Prof. Dr. Berthold Wald weisen auf ein modernes Phänomen hin: Noch Nutzloser als in zurückliegenden Epochen scheint dem modernen Menschen der Zugang zum Schweigen völlig abhanden gekommen zu sein.

Handy und Kopfhörer – Symbole unserer Zeit und Feinde des Schweigens

Vernunft und Vernehmen stehen schon wortgeschichtlich in direktem Zusammenhang. „‚Vernunft‘ kommt von ‚Vernehmen‘; niemand kann aber etwas vernehmen, wenn er nicht schweigt; nur der Schweigende hört.“ Auf dies Schweigen und Vernehmen und auf das schweigend Vernommene kommt Pieper schon sehr früh und dann immer wieder von neuem zu sprechen, nach kleineren Vorarbeiten zuerst in „Muße und Kult“ (1948). Muße versteht er als Haltung der „Nichtaktivität“, als „Haltung dessen, der nicht eingreift und redet, sondern dessen, der schweigt“, „der losläßt, der sich losläßt und überläßt“. Solche Nichtaktivität und solches Schweigen bedeutet, „daß der dem Seienden von Natur zugeordneten und ‚ent-sprechenden‘ Antwortkraft der Seele nicht ins Wort gefallen werde.“ Und solches Schweigen beansprucht den Menschen tiefer, als alle wissenschaftliche Objektivität.

Schweigen zu können heißt, den vielerlei Gestalten des Nicht-Schweigens keinen Resonanzraum zu öffnen: angefangen bei den täglichen Ablenkungen durch das mediale Infotainment, den demokratiepolitisch erwarteten Stellungnahmen zu allem und jedem bis hin zur empörten Ignoranz, wenn andere anders denken als man selbst.

Wie es viele Weisen des Nicht-Schweigens, der Vereitelung von Hören auf die Sprache der Dinge, gibt, so auch viele Weisen des schweigenden Vernehmens. In einer Pfingstbetrachtung, die 1955 zuerst als Leitartikel der „FAZ“ erscheint, nennt Pieper verschiedene Gestalten wahrhaft geistigen Lebens, worin „das Auge der Seele sich öffne zu der äußersten ihm möglichen Empfänglichkeit“ für die Dimension des Seins im Ganzen: „Zum Beispiel, wenn wir die Zeichen bedenken, die uns in der Dichtung, in der Musik und in allen bildenden Künsten vor Augen gebracht werden. Auch die Besinnung des Philosophierenden meint das Insgesamt der Welt“, und eben diese gleiche Welt schon als Gegenstand „irdischer Kontemplation“. „Vor allem aber ist die religiöse Kontemplation zu nennen, das betrachtende Sich-versenken in die Mysterien der Rede Gottes“, schließlich das Gebet, in welchem „das Schweigen entscheidender ist als die eigene worthafte Äußerung“.

Zu allen diesen Weisen, von der Wirklichkeit selbst erst in schweigendem Vernehmen berührt zu werden, gehört die Grenze des Erreichbaren ebenso wie das sich steigernde Verlangen, diese Grenze zu überschreiten. Die Berührung mit dem, was ist und geschieht, führt zur „Anerkennung des Geheimnischarakters der Welt“, dem einzig die „Heiterkeit des Nichtbegreifenkönnens“ entspricht. Das ist zugleich gegen einen „Fanatismus des Wahren“ (Konrad Weiß) gerichtet, welcher „das Vertrauen auf das Fragmenthafte, das eben das Leben und das Wesen der Geschichte bildet“, nicht aufzubringen vermag. Der Selbstbezug des Denkens dagegen, wie er für das neuzeitliche Philosophieren kennzeichnend ist, führt entweder in eine geschlossene Welt philosophischer „Systeme“ oder in die Auflösung allen Vernunftvertrauens. Auf die letzte Bedeutung des Wirklichkeitsganzen aufmerksam zu werden, geschieht auf diesem Weg gerade nicht. Und weil das bei Josef Pieper auf erregende Weise anders ist, darum führt jede philosophische Erörterung und jedes Buch Piepers seine Hörer und Leser zugleich in den Vorhof der Theologie und näher an die Schwelle zum Geheimnis des christlichen Glaubens heran.

Berthold Wald (Herausgeber der Werke Josef Piepers) in „Schweigen, um Gott zu hören“, zum 120. Geburtstag von Josef Pieper, am 4. Mai 2024. Erschienen in „Die Tagespost“ am 3. Mai 2024.

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